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Alt 11.01.2017, 16:01   #124  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard Lob des klassischen Bildungsbürgertums (R.I.P.)

Klagen über einen schwierigen Buchmarkt gibt es meines Wissens seit den 1780er Jahren. In der Hinsicht machte Goethes Bestseller Die Leiden des jungen Werthers (1774, überarbeitete Fassung 1787) Mode - im wörtlichen Sinne. Seine Mischung aus Coming-of-Age und bittersüßem Liebesdrama wird als Sturm und Drang klassifiziert, ähnliche Muster finden sich in Benjamin Leberts Crazy (Kiepenheuer & Witsch 1998) - wie beim Vorbild autobiographisch unterfüttert.

Seither klagen Verlage über unverlangt eingesandte Manuskripte, die kaum dem kritischen Blick der Praktikantin oder des Praktikanten standhalten. Auf der anderen Seite wächst mit den leichteren technischen Bedingungen die Konkurrenz, und das eigene Manuskript muß sich gegen eine dreistellige Zahl von Alternativen durchsetzen.
Durch leichtere Schreibmöglichkeiten wächst aber die Zahl der Slots im Programm nicht. Das bedeutet: Die Ansprüche steigen - bei den Verlagen, beim Publikum und nicht zuletzt bei den Schreibenden selbst.

Vielleicht kann der Nachwuchs seine eigenen Chancen auf der abstrakten Ebene realistisch einschätzen. Sobald es ernst wird und die Absage als Serienbrief hereinflattert, grummelt es unangenehm im Bauch.
Insofern halte ich es für wichtig, über den Tellerrand zu blicken.

Der Kanon des klassischen Bildungsbürgertums ist Geschichte, was ich schade finde. Denn diese Bibliothek für den Notgebrauch bedeutete so etwas wie eine gemeinsame Gesprächsgrundlage. Auf diesem neutralen Grund konnten beide Seiten einander beschnuppern, ohne verlegen übers Wetter plaudern zu müssen.
Über den Umweg der Klassiker ließ sich die eigene Filterblase aufbrechen. Schließlich wurde die Lektüre jedem empfohlen, der sich für Literatur interessiert. Und das unabhängig von der Herkunft, dem eigenen Geldbeutel und sonstigen Verhältnissen.

Soweit ich mich erinnere, wurde es sogar erwartet, Bücher jenseits der eigenen Weltanschauung zu lesen. Schließlich ließ sich der Gegner dadurch besser einschätzen, und Strategie und Taktik konnten gezielter eingesetzt werden.

Konkret bedeutete das: Sogar Konservative und Reaktionäre hatten ihren Marx und das Kommunistische Manifest gelesen. Damals habe ich des öfteren gehört, daß diese Leute aus der Oberschicht sich über Gewerkschafter oder Leute aus der Studentenbewegung lustig machten, indem sie sagten, sie hätten Das Kapital besser studiert als die Linken und die Roten.
Trotz der happigen Arbeitszeiten im 19. Jahrhundert formierte sich die Bewegung nicht zuletzt durch ein großflächiges Netz an Orten zur Fortbildung. Es gab Arbeiterbibliotheken, Tagungen und andere Angebote. Zumindest auf dem Papier konnten sie ihren Horizont erweitern und erfahren, wie es woanders zuging.
Vom Lesen zum Schreiben ist jedoch ein weiter Weg, den nur ein Teil des Publikums einschlägt.

Früher hatten Leute aus den niederen Schichten gewiß größere Skrupel, wenn sie ihr Manuskript aus der Hand geben sollten. Schreibmaschinen waren bei weitem nicht so allgegenwärtig wie heute Computer. Durch das Internet sind weitere Hemmungen flöten gegangen.
Der Wettbewerb ist härter geworden: Du mußt schon verdammt gut sein, wenn jemand Geld für dein Werk verlangen soll.
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