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Alt 30.12.2016, 17:27   #100  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard Wachstumsschmerzen?

Zwar gibt es in der Literargeschichte etliche Autoren von Weltrang, die sich fast auschließlich auf kürzere Formen beschränkt und es darin zur Meisterschaft gebracht haben, meist ließ sich jedoch kein Blumentopf gewinnen.
Publikum und Verlage bevorzugen Romane, durch die sich ein Autor zur eigenen Marke entwickeln kann. Romane werden am häufigsten besprochen, und die Preisgelder sind relativ üppig, so daß etwas übrig bleibt.

Allerdings schreiben sich Romane nicht von selbst.
Sie verlange eine trainierte Kondition wie im Spitzensport, weil ein gewisses sprachliches Niveau über mehrere Wochen, Monate und manchmal Jahre durchgehalten werden müssem. Das muß um eine traumwandlerische Präzision ergänzt werden, die Sachverhalte auf den Punkt bringt, die Spannung hält und den gewünschten Effekt (häufig Identifikation mit der Hauptfigur) beim Publikum erzielt.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, sich an die anspruchsvollen Formate heranzutasten: Gelungene Figuren aus einer Kurzgeschichte, können in einer anderen aufgegriffen werden. Mehrere Kurzgeschichten können durch einen bestimmten Rhythmus (zum Beispiel Feiertage oder Geburt-Hochzeit-Tod) zu einer Einheit verklammert werden.
Solange die erzählerischen Kapitel für sich allein stehen können, machen sie keine Probleme. Bei einer komplexen Novelle oder längeren Erzählung wird das schon schwieriger. Für Lesungen oder (Vor-) Veröffentlichungen müssen gewisse Passagen ausgewählt werden, die ähnlich wie Kurzgeschichten funktionieren.

Wer sich die Länge erobert, ohne Verpflichtungen wie Lesungen zu haben, muß bloß aufpassen, dem Zugang zum Stoff des Manuskripts nicht zu verlieren.
Je dichter der Terminkalender mit Auftritten gepflastert ist, desto eher können Probleme auftauchen. Besonders am Anfang verlangen längere Manuskripte die ungeteilte Aufmerksamkeit der oder des Schreibenden.

Bei mir waren das zum Beispiel acht bis zwölf Normseiten, für die beim ersten Anlauf ein ganzes Jahr gebraucht habe. Zwei oder drei Jahre später habe ich für achtzig Normseiten immer noch ein halbes Jahr Blut und Wasser geschwitzt. Nach vier oder fünf Jahren hatte ich mich freigeschrieben, und die Länge war kein Hindernis mehr.

Teilweise überschnitt sich die letzte Phase mit meiner ersten Hochphase, in der ich teilweise jeden Monat einen Auftritt hatte. Mein Publikum dort konnte ich nicht vertrösten: "Mein Kopf ist dicht, deshalb habe ich keine neuen Texte." Damit hätte ich das Publikum verprellt.
Also brauchte ich kreative Lösungen für frische kurze Belletristik.

In einem Notizbuch (oder Blog) habe ich knackige Oneliner gesammelt. Allerdings eignen sich die nur für die letzte Zugabe.
Mit den Miniaturen am Seitenrand sollten sich über mittlere Sicht schon einige Minuten füllen lassen. Wer aus der Lyrik kommt, dürfte sicher im Vorteil sein.

Ich habe meine Verlegenheit mit einer Schreibübung kombiniert.
Gerade bei längeren Texten sollten Satzbau, Sprachstil und Rhythmus variiert werden: Wiederholungen dürfen zwar vorkommen, sie sollten aber einen Zweck erfüllen (simpler oder cholerischer Charakter, verfahrene Situation ...).

Deshalb habe ich versucht, Stories auf einen Absatz zu konzentrieren.
Beim dritten oder vierten Mal habe ich den Schwierigkeitsgrad erhöht: Das Geschehen mußte sich zu einem einzigen Satz verdichten. Durch Nebensätze, Appositionen und andere Einschübe, habe ich die drei bis fünf Zeilen inszeniert und dramatisiert.
Wann erfährt das Publikum welchen Sachverhalt? Worin liegt die Pointe? Welche Perspektive beleuchtet das Geschehen am besten?
(Einige meiner Fotoalbum-Episoden wurden gedruckt oder fanden bei Lesungen ihr Publikum.)

Was bei euch am besten funktioniert, müsst ihr selbst herausfinden.
Wichtig ist nur, immer Material für Lesungen oder Einsendungen in petto zu haben.
Wehe, ihr werdet kalt erwischt. Das könnte nämlich peinlich werden.
Deshalb gilt hier der Spruch der Pfadfinder: "Be prepared! - Seid bereit!"
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