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Alt 08.01.2017, 20:36   #116  
Servalan
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Zitat:
Zitat von Peter L. Opmann Beitrag anzeigen
Karl Kraus schrieb: "Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten." Das ließe sich auf Bücher allgemein ausdehnen.
Nun ja, auf den ersten Blick wirkt der Vorsatz, den Kollegen helfen zu wollen und vor Schlimmerem zu bewahren, wie eine fadenscheinige Ausrede - ein Persilschein, um den angekratzten Ruf zu retten. Historisch gibt es jedoch prominente Fälle, in denen der wohlmeinende Schutz ernst gemeint war.

Insofern schlägt die Zensur kuriose Kapriolen.

Zensoren von Romanen und anderen belletristischen Werken waren Teil der Branche und des Betriebs. Freiherr von Retzels (siehe #115) Vorbild könnte sein französischer Kollege Chrétien-Guillaume de Lamoignon de Malesherbes (1721-1794) gewesen sein, der quasi als Whistleblower im richtigen Moment der Aufklärung unschätzbare Dienste erwiesen hat.
Wie wichtig sein doppeltes Spiel bei der Rettung der Aufklärung war, läßt sich heute noch an den Wikipedia-Einträgen einlesen. Der deutsche Artikel referiert das Geschehen eher nüchtern:
Zitat:
Nach kurzer Zeit als Anwalt wurde er aufgrund seiner Leistungen im Jahre 1750 zum Präsidenten des cour des aides des Pariser Parlaments ernannt, nachdem sein Vater, Guillaume de Lamoignon de Blancmesnil, zum Kanzler, chancelier de France befördert worden war. Die Aufgaben eines Kanzlers war die Kontrolle der Presse, und diese Pflicht wurde Malesherbes von seinem Vater während seiner achtzehn Amtsjahre anvertraut und brachte ihn viel mehr als seine richterlichen Aufgaben in Kontakt mit der Öffentlichkeit. (...)
Um seine Aufgaben effizient auszuüben, hielt er die Verbindung mit den literarischen Führern in Paris – insbesondere mit Denis Diderot, Friedrich Melchior Grimm – man geht sogar so weit zu sagen, dass die Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers ohne Malesherbes' Hilfe wahrscheinlich nie veröffentlicht worden wäre, da Malesherbes als Oberzensor, Censure royale 1751 der Encyclopédie das königliche Privileg verliehen hatte. Diesen Vorzug hätte Malesherbes durchaus nicht gewähren müssen, da er das Werk auch stillschweigend hätte passieren lassen können.
Die französische Wikipédia hebt Malesherbes' Einsatz prominent im ersten Absatz des Fließtextes hervor und bringt sogar die Anekdote in wörtlicher Rede:
Zitat:
Il est successivement conseiller en 1744, premier président de la cour des aides de Paris et directeur de la Librairie en 1750, c’est-à-dire responsable de la censure royale sur les imprimés, poste dont il se sert pour soutenir l'Encyclopédie. Ainsi, lorsque le privilège des éditeurs de l'Encyclopédie est révoqué et que le parlement ordonne la saisie des papiers de Diderot, Lamoignon de Malesherbes le fait avertir secrètement. Diderot, consterné, courut chez lui. « Que devenir ? s’écriait-il ; comment, en vingt-quatre heures, déménager tous mes manuscrits ? Je n’ai pas le temps d’en faire le triage. Et surtout où trouver des gens qui veuillent s’en charger et qui le puissent avec sûreté ? — Envoyez-les tous chez moi, répondit M. de Malesherbes, on ne viendra pas les y chercher1. ».
Der Zensor warnt Diderot vor einer Razzia, die in 24 Stunden all seine Manuskripte beschlagnahmen will. Diderot verzweifelt, weil er nicht weiß, wo er das ganze Papier auf die Schnelle verstecken soll. Malesherbes schlägt ihm vor, die gesuchten Manuskripte bei ihm zu verbergen. Da suche niemand.
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