Thema: Filmklassiker
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Alt 13.05.2024, 06:10   #2073  
Peter L. Opmann
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Ich habe hier schon durchblicken lassen, daß ich ein großer Bewunderer der Filmkunst von Buster Keaton bin, und ich habe noch einige bisher nicht digitalisierte Filme von ihm auf Video. Viele davon sind inzwischen leicht im Internet zu finden, aber ich habe mich entschlossen, die mir nun allmählich auch vorzunehmen. Beginnen will ich mit „Verflixte Gastfreundschaft“ (1923), seinem ersten richtigen Langfilm. Sein kurz vorher entstandenes Werk „Drei Zeitalter“ ist nur 60 Minuten lang und besteht eigentlich aus drei Kurzfilmen. Gegen „Verflixte Gastfreundschaft“ (Co-Regisseur John G. Blystone) könnte man einwenden, daß er beständig zwischen Komödie (mit gar nicht viel Slapstick) und ernstem Drama schwankt. Mir scheint aber, daß der Film deshalb etwas seltsam geworden ist, weil das Drehbuch wohl nur den groben Handlungsrahmen festlegte und Keaton dann hauptsächlich Mühe darauf verwendete, die einzelnen Szenen so wirkungsvoll wie möglich zu gestalten.

Zu Beginn erleben wir das Ende einer furchtbaren Blutfehde zwischen zwei Familien im mittleren Westen, den McKays und den Canfields. Von den McKays ist jetzt (um 1800) nur noch ein Kleinkind am Leben, das nach New York in Sicherheit gebracht wird. Aus dem Kind wird Buster Keaton, der schließlich in die Heimat zurückkehren soll, um dort ein Erbe anzutreten. Bei dieser Gelegenheit erfährt er zwar die Sache mit den Canfields, aber er kennt niemanden von ihnen. Mit einem Uralt-Modell einer Eisenbahn reist er hin; in seinem Abteil trifft er ein hübsches Mädchen (Natalie Talmadge). Beide verlieben sich ineinander, ohne zu wissen, daß sie den verfeindeten Familien angehören. Das Erbe ist nicht der Rede wert, aber Keaton besucht Talmadge in ihrem Haus. Ihr Vater (Joe Roberts) und ihre beiden Brüder bekommen Wind davon, wer Keaton ist, und wollen ihn sofort töten. Der etwas unbedarfte Keaton merkt das erst etwas später. Da ihm aber nichts geschehen darf, solange er als Gast unter dem Dach der Canfields weilt, muß er nun alles daransetzen, das Haus nicht zu verlassen.

Schließlich flieht er doch zu einem Wildwasserfluß, verfolgt von einem der Canfield-Söhne. Talmadge folgt ihnen voller Sorge. Obwohl Keaton und sein Verfolger zeitweise mit einem langen Seil aneinandergebunden sind, gelingt der Anschlag auf ihn nicht. Keaton fällt allerdings nach kurzem Aufenthalt im Zug zurück nach New York in den Fluß und treibt auf einen riesigen Wasserfall zu – etwas später auch Talmadge. In einer Abfolge von waghalsigen Stunts, die allerdings wohl nicht so gefährlich aussehen, wie sie tatsächlich waren, rettet Keaton schließlich sich und sein Mädchen. Er kehrt ins Haus der Canfields zurück. Roberts und seine Söhne treiben ihn da auf, aber es ist zu spät: Sie wollen ihn nun zwar auch im Haus erschießen, aber Keaton und Talmadge haben soeben geheiratet, und damit gehört er zur Familie. Die Canfields geben auf und legen ihre Pistolen auf den Tisch. Darauf entledigt sich Keaton eines ganzen Bergs von Waffen, die er offenbar während der Trauung vorsichtshalber getragen hat…

Der komische Kern des Films – Keaton muß sich so verhalten, daß er nicht plötzlich über den Haufen geschossen wird – ist mit einer Menge Drumherum ausgeschmückt, insbesondere mit einer etwa viertelstündigen Bahnfahrt. Eisenbahnfan Keaton ließ eine Bahn von 1830 originalgetreu nachbauen, macht sich aber permanent über die gute alte Zeit lustig, in der alles noch ganz gemächlich vonstatten ging. Da sieht man einige Gags, die in „Der General“ (oben bereits besprochen) etwas verändert wieder auftauchen. Diese Nebenhandlung könnte man herausschneiden, ohne daß das Verständnis der Handlung beeinträchtigt wäre. Aber es wäre doch schade, denn die Gags sind ungewöhnlich und sehr lustig. Ebenso zeigt Keaton eine bekannte Kreuzung in New York (Broadway/42nd Street), an der um 1830 natürlich nur ein einsames Farmhaus steht, aber ein Polizist bereits den Kutschen-Verkehr regelt. Und so ist der ganze Film voll von liebenswerten Einfällen, die oft für den Fortgang der Handlung unerheblich sind. Und dann gibt es auch Keatons wahnwitzige Stunts, bei denen er sich teilweise verletzte und die vielleicht besser in den Rahmen eines Suspense-Films gepaßt hätten. Obwohl alles nicht so recht zusammenpaßt, macht Keaton durch sein Gespür für Storytelling und Timing doch eine harmonische Einheit daraus.

„Verlixte Gastfreundschaft“ spielt auch auf Verhältnisse in Keatons eigenem Leben an. Natalie Talmadge war tatsächlich seine Ehefrau, und sie war die Schwägerin von Keatons Filmproduzent Joseph Schenck, der damals Produktionsleiter der United Artists war (später 20th Century Fox). Die Talmadge-Familie soll auf den Vaudeville-Künstler Keaton herabgeblickt haben. Die Ehe, die von 1921 bis 1933 bestand, war nicht sehr glücklich, was sich in diesem Film aber noch nicht abzeichnet. Interessant auch: Der bullige „Big“ Joe Roberts war ein häufiger Filmpartner von Keaton, vor allem in seinen Kurzfilmen. Keaton wollte auch nach 1923, als er nur noch abendfüllende Filme machte, die Zusammenarbeit fortsetzen, aber während der Dreharbeiten zu „Verflixte Gastfreundschaft“ erlitt Roberts einen Schlaganfall. Er spielte seine Rolle weiter, auch als ein zweiter Schlaganfall hinzukam. Einen Monat nach Ende der Dreharbeiten starb er.
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