Thema: Filmklassiker
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Alt 08.01.2024, 06:07   #1810  
Peter L. Opmann
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Mal wieder ein anerkannter Klassiker: „Die Wendeltreppe“ (1946) von Robert Siodmak. Obwohl ich diesen Film bestimmt dreimal gesehen habe, konnte ich mich nur noch in groben Zügen an ihn erinnern. Das zeigt, daß er nicht mehr so funktioniert, wie er einmal gedacht war. Dabei ist für mich gar nicht klar, worum es sich eigentlich handelt. Es ist ein Whodunnit: Zu Beginn geschieht ein Mord, und dann sind wir in einem Haus, in dem sich eine kleine Gesellschaft befindet, innerhalb derer praktisch jeder der Mörder sein könnte. Der Mörder kann allerdings jederzeit wieder zuschlagen, was das Ganze auch zu einem Thriller, ja, beinahe zu einem Horrorfilm macht. Das Opfer ist hilflos, denn es kann nicht sprechen – erst recht nicht um Hilfe rufen. Und es kann nicht fliehen. Der Inszenierungsstil, der den Film auf jeden Fall sehenswert macht, hat mich an die Miss-Marple-Filme (mit Margaret Rutherford – das war ja mal der Anlaß, diesen Thread zu starten) erinnert. Das ist allerdings ein Zeichen dafür, daß man den Film heute anders sieht als zu seiner Entstehungszeit. Alles wirkt etwas skurril, fast komisch.

Es sollte ursprünglich ein MGM-Film werden, aber die verkaufte den Stoff an RKO, und dieses Studio machte wie gewohnt ein Qualitätsprodukt daraus. Die Schauspieler sind nicht so bekannt; es wirken mit Ethel Barrymore, die für einen Oscar nominiert wurde, Rhonda Fleming, die noch am Beginn ihrer Karriere stand, Elsa Lanchester und Dorothy McGuire, die hauptsächlich für ihre Rolle in diesem Film bekannt wurde. Das Mordopfer zu Beginn ist ein Dienstmädchen (daß es hinkt, wird für die Story noch wichtig). Wir befinden uns im Haus der Familie Warren. Die tyrannische Mutter (Barrymore) ist bettlägerig. Sie hat zwei Söhne und mehrere Bedienstete, darunter die stumme McGuire. Ein Arzt sieht regelmäßig nach ihr. Ein Polizeioffizier warnt vor dem Mörder. Nun beginnt angesichts der Liebes- und Konfliktverhältnisse der Hausbewohner das Rätselraten. Verdächtig erscheint vor allem der jüngere Sohn, ein Taugenichts. Der Arzt bemüht sich darum, dass McGuire ihre Stimme wiedererlangt.

Nachdem auch Fleming gewaltsam zu Tode gekommen ist (durch ein Schattenspiel sehr raffiniert inszeniert), gibt sich schließlich nicht der jüngere, sondern der ältere Bruder, ein Gelehrter, als Mörder zu erkennen. Er löscht angeblich unwertes Leben, also Menschen mit Handycaps, aus. McGuire sucht verzweifelt einen sicheren Ort im Haus. Als der Mörder sie gestellt hat und die Wendeltreppe heraufkommt, wird er von seiner Mutter erschossen, die inzwischen auch herausgefunden hat, wer der Täter ist. McGuire hatte ihr Sprechvermögen einst durch ein schreckliches Erlebnis verloren und findet es nun auf demselben Weg wieder, als sie sich todgeweiht wähnt.

„Die Wendeltreppe“ taugt nach meiner Überzeugung noch heute als Anschauungsmaterial für angehende Horrorfilm-Regisseure. In manchen Szenen nimmt er Filme wie „Hallowen“ vorweg, obwohl Jamie Lee Curtis da alles andere als stumm ist. Aber daß dem „Spiegel“-Rezensenten der 40er Jahre die Schockeffekte am Ende zu viel wurden, kann man kaum noch nachvollziehen. Das Mordhaus mit seiner pittoresken Einrichtung und den lustig knisternden Kaminfeuern wirkt heute eher gemütlich. Gegen die vielen Schatten ließe sich durch die Einführung von elektrischem Licht leicht etwas unternehmen. Daß immer wieder Fenster offenstehen, liegt nur an den typisch amerikanischen Schieberahmen. Und daß gerade in den gefährlichsten Momenten ein schreckliches Gewitter tobt, wirkt inzwischen reichlich dick aufgetragen. Die skurrilen Charaktere tragen das Ihre dazu bei, daß das alles heute eher wie „Miss Marple“ wirkt.

Hitchcock hat so etwas zur gleichen Zeit zurückhaltender und damit effektvoller inszeniert. Aber daß „Die Wendeltreppe“ niemanden mehr ängstigt, bedeutet nicht, daß es kein guter Film ist. Wie schon erwähnt: Siodmak führt mit großer Meisterschaft Regie; die Story ist allerdings nicht immer ganz stimmig – ihre Stärke ist nur, daß bis zum Schluß offen bleibt, wer der Mörder ist, und viele falsche Fährten gelegt werden. Auch die Schauspielerleistungen finde ich durchgehend hervorragend; vielleicht ist es gerade von Vorteil, daß kein ganz großer Star mitspielt. David O. Selznick hatte allerdings ursprünglich für die Rolle der Stummen Ingrid Bergman im Sinn. Leider kenne ich von Robert Siodmak nur wenige weitere Filme (vor allem „Menschen am Sonntag“ und „Der rote Korsar“, die beide schon hier besprochen wurden), dabei hat er ein sehr umfangreiches Werk hinterlassen. Wieder mal eine Bildungslücke, die noch zu füllen wäre.
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