Thema: Filmklassiker
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Alt 05.01.2024, 07:35   #1807  
Peter L. Opmann
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Diesmal habe ich mir einen für meine Verhältnisse ziemlich neuen Film angesehen, „Little Nemo – Abenteuer im Schlummerland“ (1989) von Masami Hata. Dieser Zeichentrickfilm hält sich nur am Anfang einigermaßen an die Comicvorlage von Winsor McCay. Sein Zeitungscomic aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist allerdings wohl nicht werkgetreu verfilmbar. Der Film ist in meinen Augen mißglückt und fiel damals auch beim Publikum durch, aber er hat Bedeutung für die Geschichte des Zeichentrickfilms als frühe Zusammenarbeit eines japanischen Studios mit amerikanischen und europäischen Mitarbeitern; er war auf den Weltmarkt zugeschnitten. Als er zu Weihnachten 1992 bei uns ins Kino kam, lief gleichzeitig Disneys "Die Schöne und das Biest“, ein abendfüllender Zeichentrickfilm, der scheinbar mühelos das schafft, was „Little Nemo“ mit großer Anstrengung anstrebt. Das ist aber natürlich mein europäischer Blickwinkel.

Interessant ist, daß „Little Nemo“ in Deutschland als rein amerikanisch-europäischer Film annonciert wurde. So stand in „Rraah!“: „Pünktlich zu den Festtagen kommt ab 17. Dezember der neue ,Little Nemo‘-Trickfilm in die deutschen Kinos. Nach Buch und Konzept von Ray Bradbury und Chris Columbus schuf kein Geringerer als Moebius/Jean Giraud die Zeichnungen des animierten Klassikers aus den Kindertagen der Comics. Die Regie führte William T. Hurtz.“ Moebius! Ray Bradbury! Chris Columbus! William T. Hurtz war ein Veteran des Zeichentrickfilms, hat allerdings bei wikipedia keinen eigenen Eintrag. In Wirklichkeit wurde „Little Nemo“ allerdings von Yutaka Fujioka produziert, und Regie führte (wie erwähnt) Masami Hata. Das war offenbar noch vor dem großen Manga- und Anime-Boom, so daß der Verleih entschied, daß diese Namen hier keinerlei Werbewirkung haben.

Zu Beginn des Films hat man das Gefühl, daß sich die Macher tatsächlich an Winsor McCay orientiert haben. Nemo träumt davon, von einer Lokomotive verfolgt zu werden und den Einzug eines Zirkusses in die Stadt mitzuerleben, und fällt dann jeweils beim Aufwachen aus dem Bett. Dann aber dreht sich die Story hin zu einem Abenteuerstoff, der nicht mehr viel mit dem Comic zu tun hat. Ein Zirkusmitglied bringt den Jungen und sein Flughörnchen Ikarus ins Schlummerland, wo er mit Prinzessin Camille und ihrem Vater, König Morpheus, zusammentrifft und erfährt, daß er dieses Reich erben soll. Der König überreicht ihm einen goldenen Schlüssel, der jede Tür im Schlummerland aufschließt. Eine Tür soll Nemo aber niemals öffnen: die zum Alptraumland, hinter der ein ziemlich Nippon-mäßiger (und gut gemachter) böser Geist lauert. Ein zwielichtiger Clown namens Flip bringt ihn dann doch dazu, diese Tür aufzuschließen, und der Rest des Films ist der Kampf gegen diesen Nachtmahr und seine koboldhaften Helfer, aus dem Nemo schließlich dank seines magischen Zepters siegreich hervorgeht. Am Ende erweist sich alles als Traum – bis auf den Zirkus, den Nemo nach dem Aufwachen mit seinem Vater besuchen wird.

Obwohl manches an der Animation noch an japanische Produktionen wie „Heidi“ oder „Biene Maja“ erinnert, ist das ein sehr aufwendiger und auch in vielen Details überaus einfallsreicher Zeichentrickfilm. Im Vergleich zu damaligen Disney-Werken ist der Film allerdings sehr unruhig; es ist ein Feuerwerk von Bildideen und Effekten, die aber oft nicht der Story dienen und damit in der Mehrzahl eher verpuffen. Heute ist dieser Inszenierungsstil fernöstlicher Zeichentrickfilme nichts Ungewöhnliches mehr und hat eine Menge Fans. Damals spielte „Little Nemo“, der drei Milliarden Yen gekostet hatte, nur knapp ein Drittel davon wieder ein, und Fujioka zog sich als Konsequenz aus dem Geschäft zurück.
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