Thema: Filmklassiker
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Alt 28.11.2023, 06:08   #1719  
Peter L. Opmann
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„Billy, how did you do it?“ (1988) von Volker Schlöndorff und Gisela Grischow

Die Dokumentation beginnt mit der ersten Begegnung von Wilder mit Karasek und Schlöndorff vor seinem Schriftsteller-Office in Hollywood, in dem er mit 82 Jahren immer noch arbeitet. Innen werden sie auf die Schrift an der Wand aufmerksam: „How would Lubitsch do it?“ Wilder erzählt also, was den Lubitsch-Touch ausmacht. Aber ich möchte damit beginnen, was Schlöndorff mit Wilder verbindet, worauf er erst danach zu sprechen kommt.

Eigentlich wollte er Filme machen wie Billy Wilder, sagt Schlöndorff, auch wenn er sich dann auf Literaturverfilmungen spezialisierte. Eines Tages bekommt er einen Brief auf Universal-Picture-Papier: „I had the good fortune today to see in the screening room ,The lost Honor of Katharina Blum‘. I think simply it’s the best German picture since Fritz Lang‘s ,M‘. Yours Billy Wilder“.

Schlöndorff: Ich war so verblüfft von diesem Brief und konnte mir nicht vorstellen, wie es zu dieser Vorführung gekommen war, daß ich ein paar Antwortbriefe zu formulieren versucht habe. Aber ich wußte nicht: Wie redet man Billy Wilder an? Ich habe die Sache auf sich beruhen lassen, bis ein Anruf von Paul Kohner kam, Billy Wilders Agenten: „Sie müssen was tun – Herr Wilder ist sehr ungehalten: Ich schreib‘ dem einen Fanbrief, und der Kerl antwortet mir nicht mal! Er ist im Hotel Vier Jahreszeiten in München. Gehen Sie hin und entschuldigen Sie sich!“

Das habe ich gemacht, und seitdem bin ich mit Billy Wilder befreundet. (Schlöndorff hat vermutlich Karasek die Türen geöffnet für dessen Spiegel-Interview, und dabei hat er nebenbei seinen Film gedreht. Anm.) Wir haben viel über Filme diskutiert, und er ist voller Geschichten, Tricks, Regeln und Antworten. Alles geht nach Regeln bei ihm. Er meint, für jede Lebenssituation, jede Drehbuchsituation und jede Situation beim Inszenieren gibt es Regeln, wie man etwas machen muß und wie man es auf keinen Fall machen darf.

Wilder stammt aus Galizien, brach ein Jurastudium in Wien nach sechs Wochen ab und folgte einer Jazzkapelle nach Berlin als Pressebetreuer. Er arbeitete am Drehbuch von „Emil und die Detektive“ und vor allem an „Menschen am Sonntag“, dem ersten Nouvelle-Vague-Film. 1933 floh er nach Paris, wo er einen Film inszenierte, über den er nicht gern spricht, und dann nach Amerika. Dazu verhalf ihm Joe May und zu einem kleinen Vertrag bei Columbia Pictures.

Er kam sich im Gegensatz zu anderen Emigranten nie im Exil vor, sondern am Ziel seiner Wünsche. Schon in den 1920er Jahren saß Wilder mit Freunden im Romanischen Café in Berlin, und sie fragen sich: Wäre ich gut genug für Hollywood? Er stürzte sich nun mit Begeisterung auf die amerikanische Sprache und Kultur. Nach wenigen Monaten konnte er anfangen, an Drehbüchern mitzuarbeiten, und er fand seinen Partner für ein Jahrzehnt: Charles Brackett, mit dem er 13 Drehbücher schrieb. Mit ihm wurde er ein Markenartikel für das gut geschriebene Drehbuch in den 30er und Anfang der 40er Jahre. Aber Drehbuchschreiben genügte ihm nicht – er ärgerte sich zu sehr, was daraus wurde. Er mußte selbst Regie führen.

(Jetzt noch eben zu Ernst Lubitsch, bevor es mit Wilders erstem Film als Regisseur losgeht.)

Lubitsch konnte, so Wilder, „aus Hühnerscheiße Schokolade machen“. Er hatte nie Angst, daß die Leute seine Einfälle nicht verstehen. Lubitsch interessiert: Wie kann man eine Geschichte anders erzählen? Wie kann man sie schneller, witziger, eleganter erzählen? Wie kann man das Publikum mehr am Erzählen beteiligen? Man sollte eine innere Veränderung nicht zeigen, während sie passiert, sondern lieber hinterher.

Als Beispiel eine Szene aus „Ninotschka“: Mit zwei anderen russischen Funktionären kommt sie in die Halle des Ritz in Paris. In einer Vitrine sind drei sehr extravagante Damenhüte ausgestellt. Sie voll kommunistischer Verachtung: „Wie kann eine Zivilisation bestehen, in der Frauen solche Hüte tragen?“ In ihrem Hotelzimmer schließt sie die Tür ab, nimmt einen solchen Hut aus der Schublade einer Kommode und probiert ihn vor dem Spiegel an. Wilder: Wir wissen genau: Diese Kommunistin ist verdorben.

Lubitsch und Wilder wissen, daß in der Filmgeschichte immer wieder dasselbe erzählt wird. Aber auf das Wie kommt es an.

„The Major and the Minor“ (1942)
Schlöndorff: Eine lolitaartige Geschichte, die noch in vielem untypisch für Wilder ist, aber ihn zusammenbrachte mit Ray Milland („The lost Weekend“) und mit Ginger Rogers als Minderjährige.

Wilder: Am Tag vor den ersten Aufnahmen ging ich zu Lubitsch und sagte: Ich werde mir in die Hose scheißen. Darauf Lubitsch: Ich mache meinen 70sten Film, und ich scheiße mir jedesmal in die Hose. Wir haben Englisch gesprochen, aber sein Englisch war sehr berlinerisch. Karasek: Deins ist wienerisch. Wilder: Das kann man nicht mehr loswerden. Ich würde gern wie ein Hanseate sprechen.

Schlöndorff: Du hast den ersten Film zur Selbstverteidigung gemacht, um dich gegen die Regisseure zu wehren. Wilder: Ja, die Regisseure. Jemand fragte mich: Ist es sehr wichtig, daß ein Regisseur auch schreiben kann? Ich sagte: Nicht sehr wichtig. Aber wichtig ist, daß er lesen kann!

Schlöndorff: In Paris hast du gesagt: Nie wieder, das ist schrecklich. Aber diesmal hast du offenbar Spaß am Inszenieren gehabt. Da hast du Blut geleckt. Wilder: Ja, ich hatte Hilfe. Ein Cutter war mein bester Berater. Schlöndorff: Du hast immer sehr ökonomisch, eigentlich auf Schnitt gedreht. Also nicht die alte Methode mit Totale, Over-Shoulder… Wilder: Ich drehe schnell und versuche, so wenige Einstellungen wie möglich zu haben. Interessante Einstellungen, aber nicht, wo die Zuschauer sagen: Schau dir das an! Dann ist es schon vorbei, wenn die wissen, daß es eine Kameracrew gab. Aber ich habe das Privileg, daß ich am nächsten Tag noch ein paar Großaufnahmen machen kann, wenn ich sie brauche.

„Five Graves to Cairo“ (1943)
Schlöndorff: Für seinen zweiten Film hat Wilder sich dann einen Stoff gesucht, den wohl nur ein Europäer behandeln konnte. Es ist ein ungarisches Theaterstück, „Hotel Imperial“ über ein Hotel in Galizien, wo er ja herkam, das während des Ersten Weltkriegs mal von den Österreichern, mal von den Russen eingenommen wird, also immer zwischen den Linien liegt – eine Erfahrung, die ja in Amerika völlig fehlt.

Auffallend ist bei diesem Film, der immerhin mitten im Krieg entstand, daß Billy Wilder die Deutschen nicht so zeichnet, wie sie sonst in amerikanischen Filmen sind, undifferenziert als Nazis. Für die Besetzung Rommels hat er sich sogar etwas Besonderes ausgedacht, ganz auf Ähnlichkeit verzichtet und Erich von Stroheim genommen.

Wilder: Wenn man nicht die Deutschen haßt, sondern nur Hitler und die Nazis, dann muß man doch sagen: Die Offiziere haben sich wie Offiziere benommen. (Anm.: So zeigt er jedenfalls Rommel, gespielt von Stroheim.)

„Double Indemnity“ (1944)
Schlöndorff: Während der Zweite Weltkrieg in Europa alles zerstörte, wurde in Hollywood weiter Glamour produziert. Das MGM-Studio hatte mit „The Postman always rings twice“ gerade einen großen Erfolg, mit Lana Turner, alles in Seide und elegant, obwohl es sich doch um einen sehr realistischen Film noir handelt. Billy Wilder griff einen Stoff von demselben Autor auf, den er aber im Gegensatz zu der MGM-Glätte wirklich hart und realistisch haben wollte. Hier fängt er an, nicht mehr nur Autor oder Schauspielerführer zu sein, sondern er greift in die Technik ein und arbeitet besonders eng mit seinem Kameramann zusammen.

Wilder: Ich habe ihm gesagt, als wir eine Nachmittagsstimmung drehten: Kannst du da irgendwas machen? Ich möchte gern, daß man den Staub sieht und Zigarettenrauch. Der Kameramann hatte Klasse und Mut.

Schlöndorff: Die Geschichte von „Double Indemnity“ ist eigentlich die typische Film-noir-Geschichte. Die Geschichte eines Versicherungsvertreters (Fred MacMurray), der sich in eine schöne Frau verliebt (Barbara Stanwyck), die ihrerseits ihren Mann umbringen will, um die Lebensversicherung zu kassieren. MacMurray will beides, die Frau und das Geld – ein typischer Billy-Wilder-Held, der an seinem eigenen Ehrgeiz scheitert und mit dem Leben dafür bezahlt. Bekannt ist vor allem die Mordszene in dem Film, denn so einen negativen Helden zu zeigen, ist ja sehr schwer, ohne die Sympathie des Publikums zu verlieren. Er muß also den Mord übertragen von der Realität auf den eigentlichen Drahtzieher, die Frau. Wie hat er das genau gemacht?

Wilder: Nur die Frau am Steuer, und da sieht man nur das leichte Rucken. Das war der Mord, ein halber Inch auf dem Zelluloid.

Schlöndorff: So ist das Schwarz-weiß in diesem Film wirklich schwarz und weiß, das heißt, es ist wirklich ein Film noir. Er gilt ja auch als Klassiker des Film noir und zeigt, wie sehr Billy Wilder auch mit dem Metier experimentiert und sich die Freude daran erhält. Er ist nicht nur jemand, der vom Papier überträgt mit konventionellen Mitteln, sondern er erfindet beim Drehen.

Wilder: Ich ging zu meinem Wagen in die Garage gegenüber Paramount. Er sprang aber nicht an. Und da kam mir der Einfall.

Karasek: Eine der wahnsinnigsten Suspense-Szenen der Filmgeschichte. So eine wunderbare Erfindung: Das Alibi ist perfekt gebaut, aber man kriegt Angst, daß der Wagen nicht anspringt.

Schlöndorff: Danach immer wieder geklaut worden.
Aber auch Meister wie Billy Wilder machen manchmal Fehler. Hier ist eine Szene, in der Fred MacMurray mit Barbara Stanwyck verabredet ist. Während er wartet, erscheint unerwartet sein Boß. Sollte der ihn nun mit Stanwyck überraschen, steht fest: Er steckt mit ihr unter einen Decke, ist ein Versicherungsbetrüger. Leider hat Wilder, wie er sagt, vergessen, Fred MacMurray die Anweisung zu geben, ab und zu nervös zur Tür zu schauen.

Wilder: Ich habe das nicht gesehen – leider. Ich bin in die Synagoge gegangen, habe gebetet. Und an dem Abend der Premiere hat er hingeschaut.

Schlöndorff: Er muß dauernd an die Tür denken. Er wagt es nicht hinzuschauen, um sich nicht zu verraten.
Die Frau kommt dann aber doch, und zwar gerade in dem Moment, als Edward G. Robinson das Apartment verläßt. Und nun war nicht vorgesehen, wo sie sich verstecken kann. Die Dekoration war nicht so gebaut.

Wilder: Ich habe den Dekorateur kommen lassen, und die Tür öffnet sich zum Korridor. Keine Tür auf der ganzen Welt geht nach außen auf. Aber niemand hat das gemerkt.

Schlöndorff: „Double Indemnity“ hatte ursprünglich ein anderes Ende, was bei Billy Wilder ja keine Seltenheit ist. Es gab einen Epilog, der Fred MacMurrays Hinrichtung in der Gaskammer zeigt.

Wilder: Es war eine gute Szene, aber ich bin der erste, der sagt: Weg damit! Was geschnitten ist, kann beim Publikum nicht durchfallen.

Schlöndorff: Billy Wilder liebt die Erzählerstimme, er liebt, etwas zu den Bildern dazuzusagen. Er meint, es ist nicht immer notwendig, alles mit Bildern zu erzählen, denn es ist manchmal mit ein paar Sätzen schneller erzählt. Außerdem können darübergesprochene Sätze ein Bild wieder ganz verändern. Und das Gebrochene, die Ironie ist für ihn das Wichtige bei der Sache. Ein anderer Vorteil: Wenn das Drehbuch auch noch so ausgefeilt war, kann es sein, daß man es doch verändern muß. Dann kann man auch mit der Erzählerstimme etwas herstellen, was sonst mit Nachdreh sehr umständlich wäre. Und der Zuschauer identifiziert sich einfach mehr mit einer Figur, die nebenbei noch zu ihm spricht. Er ist sozusagen im Kopf des Darstellers.

Wilder: Viele machen das, aber die machen einen großen Fehler: Du darfst in der Erzählung nie das wiederholen, was die Leute schon sehen. Du mußt etwas hinzufügen.

Schlöndorff: Billy, bei „Double Indemnity“ wollte Brackett nicht mitschreiben. Woran lag das?

Wilder: Er hat das Drehbuch gelesen und sagte: Das ist Trash. Ich sagte: Das liegt dir nicht. Du bist ein sehr vornehmer Sohn eines republikanischen Senators, und ich glaube, dein Name sollte da nicht draufstehen. Ich bin ein Scheiß-Mitteleuropäer. Und da hat er andere Filme gemacht.

Schlöndorff: Und so kam es, daß Billy Wilder schließlich mit dem Autor des Film noir überhaupt zusammenarbeitete, nämlich mit Raymond Chandler. Übrigens keine sehr glückliche Erfahrung, weder für Wilder noch für Chandler.

Wilder: Er hat keine Ahnung gehabt, wie ein Drehbuch geschrieben wird. „Die Kamera schaut durch das Schlüsselloch herein und fährt über die Höschen der Damen…“

Karasek: Das brauchst du nicht, das machst du nachher selber.

Schlöndorff: Was muß im Drehbuch drinstehen?

Wilder: Nichts dergleichen. Nur eine Szene. Und „Day“ oder „Night“, damit der Kameramann weiß, wie er sich vorbereiten muß.

Karasek: Wie habt ihr denn nun zusammengearbeitet? Er hat sich doch über dich beschwert.

Wilder: Ich bekam zu viele Anrufe von zu vielen Mädchen, und das waren Unterbrechungen. Ich habe ihm gesagt: Das ist die Szene, und so machen wir das. Aber er hat kein Gefühl für die Leinwand gehabt. Wenn man wie ein Dramatiker schreibt, ist das viel leichter. Jede Szene muß die Geschichte weiterbringen. Wir haben die Dialoge geschrieben und die Atmosphäre dazu gefunden.

Schlöndorff: Aber Dialoge und Atmosphäre sind nicht alles für Billy Wilder. Für ihn zählt vor allem die Konstruktion, wie die Geschichte erzählt wird. Deshalb hält er Romane für ganz ungeeignet zum Verfilmen und nimmt lieber Theaterstücke. Da, meint er, hat er schon eine Vorgabe. Da gibt es drei Akte, mit besonderer Betonung bei ihm auf dem Ende des zweiten Aktes, wo noch einmal eine Raketenstufe gezündet werden muß, die das Ende des Films transportiert. Dann, findet er, kann man leicht die Charaktere entwickeln, man kann Episches, Lyrisches hinzufügen, Beschreibung, Atmosphäre und Dialoge, denn für einen guten Satz ist er natürlich immer empfänglich.

Wilder: Man müßte eine Mischung haben können von Chandler und Agatha Christie. Die konstruiert das so stabil und stark. Und dazu die Charaktere und den Dialog von Chandler, das wäre sehr gut. Du mußt stilisieren, sonst dauert die Geschichte, die du erzählst, drei Wochen. Man muß ein bißchen übertreiben. Das kann beim Schreiben geschehen, das kann auch der Schauspieler tun. Aber wie wecke ich die Zuschauer auf? Wie lenke ich ihren Blick? Wie stimuliere ich ihr Gedächtnis? Je einfacher, je eleganter du es machst, desto besser bist du als Regisseur.

Schlöndorff: 130 Seiten sind die genormte Länge des amerikanischen Drehbuchs, auch heute noch, und Billy Wilder hält sich ganz gern an die Norm. Er findet, daß man auch die Einstellung respektieren sollte. Man sollte die Totale einsetzen, wenn sie einen besonderen Sinn hat, man sollte eine Großaufnahme nicht inflationär verwenden, man soll Fahrten oder Zooms nur da verwenden, wo sie sinnvoll sind, wo sie einen Punkt der Geschichte unterstreichen oder eine besondere Spannung schaffen.
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