Thema: Filmklassiker
Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 07.11.2023, 06:13   #1666  
Peter L. Opmann
Mitglied
 
Benutzerbild von Peter L. Opmann
 
Ort: Hessen
Beiträge: 5.596
Jetzt der zweite Teil von "Die Macht der Bilder". Ich habe inzwischen gesehen, daß die beiden Filmteile komplett bei youtube zu sehen sind. Ich mache trotzdem damit weiter, die Dialoge und Kommentare abzuschreiben. Ich füge auch ein paar eigene Anmerkungen ein.

„Fest der Völker“ (1938)
1936 dreht Leni Riefenstahl den offiziellen Film über die Olympischen Spiele in Berlin. Diese Dokumentation wird nach dem Krieg in Amerika in die Liste der zehn besten Filme der Welt aufgenommen.
Riefenstahl: Als ich mir überlegte, ob ich den Film machen könnte oder nicht, ob es interessant werden könnte, hatte ich sofort das Bild der alten olympischen Kampfstätten der griechischen Antike vor mir und nicht nur der Stellen, sondern die ganze damalige griechische Kultur, die Tempel, die Plastiken. Der Übergang von der Antike zur Gegenwart war dramaturgisch so wunderbar, daß das erleichterte, das anstatt einer Handlung optisch zu gestalten.
(Werksaufnahmen der Dreharbeiten.) Leni Riefenstahl führt auch beim Sport Regie. An der Ostsee frieren Modellathleten für Leni Riefenstahls Kamera. Auch wenn die heroischen Kämpfer beim Blick hinter die Kamera fast wie normale Menschen wirken, im Film werden sie unter ihrer Regie zu mythischen Archetypen.
Müller: Wie haben Sie sich denn vorbereitet?
Riefenstahl: Indem ich vor allem Kameraleute ausbildete. Denn es hing doch alles von der Qualität der Kameraleute ab. Ich hatte vier, fünf junge Leute, mit denen ich monatelang trainiert habe bei Leichtathletikfesten, Fußballspielen und so weiter, oft ohne Material, einfach die Bewegung der Kamera, die schnelle Reaktion, die notwendig war.
Noch nie wurde ein Dokumentarfilm mit solchem Aufwand vorbereitet und gedreht. Den Auftrag bekommt Riefenstahl vom Olympischen Komitee. Das Geld dafür stellt – auf Umwegen natürlich – das Propagandaministerium zur Verfügung. Für die Verhältnisse der Zeit verfügt die Regisseurin damit über fast unbeschränkte Mittel. Zwei ihrer Kameraleute trifft sie für diese Produktion in Berlin wieder. Spezialist an der Handkamera: Walter Frentz. Gustav Lantschner ist der andere. Viele technische Neuerungen werden bei diesem Film zum ersten Mal ausprobiert. Besonders wichtig sind die Gruben, aus denen die Kameraleute die Sportler frei gegen den Himmel aufnehmen können. Was sie bei Fanck gelernt hat, kann Leni Riefenstahl jetzt voll ausspielen. Weder filmtechnisch noch ästhetisch kann ihr irgendwer etwas vormachen.
Riefenstahl: Unsere schönste Idee war das Katapult. Wir hatten da eine Bahn gebaut, die mitgehen sollte mit den Läufern. Es war fantastisch. Und dann wurde es uns verboten. Wir konnten es nicht benutzen. Ganz besonders wichtig war auch die Grube für den Stabhochsprung. Wir konnten das alles gegen die olympische Flamme aufnehmen, das gab diese herrlichen Bilder.
Manche Bilder hat man ihr später zum Vorwurf gemacht. Der Kult der schönen und starken Körper wurde Teil des Riefenstahl-Image, in dem manche Kritiker Elemente faschistischer Kunst zu entdecken glaubten wie später bei ihren Nuba-Fotos.
Riefenstahl: Und dann war es wichtig damals, daß jeder Kameramann eine andere Kamera und eine andere Optik hatte. Und dann wurde eine Extrakamera für uns angefertigt, die 600er Tele, mit der der Herr Scheib nur diese wunderbaren Großaufnahmen gemacht hat. Und noch etwas fällt mir ein: der Ballon. Wir haben in der Mitte jeden Tag einen Luftballon mit einer winzig kleinen Fünf-Meter-Kamera losgelassen, um eine Totale aus der Luft zu kriegen. Und jeden Tag ist der Ballon woanders gelandet, auf Dächern und so, aber keine Aufnahme war verwendbar. Es hat gewackelt.
Wer diese Kamera fand, entdeckt daran einen Zettel mit der Aufforderung, sie bei der Leni-Riefenstahl-Filmproduktion abzugeben. Viele dieser Experimente werden später in der Filmgeschichte Schule machen. Der Ehrgeiz der Regisseurin deckt sich mit dem Wunsch des Regimes, der Welt perfekte Spiele zu präsentieren.
(Pause mit den beiden Kameraleuten.) Riefenstahl;: Wenn Churchill noch 1935 gesagt hat: Ich beneide Deutschland um seinen Führer, wieso sollte ich klüger als Churchill gewesen sein? Zwei Jahre später hat er gesagt: Erst muß das deutsche Schwein geschlachtet werden.
(Einschub des Verfassers: „Bei seinen anerkennenden Vorkriegsäußerungen über Hitler hob Churchill jedoch das Maß von Unterdrückung und Unrecht hervor, das den innenpolitischen Preis für den Aufstieg Hitlerdeutschlands darstellte, und warnte vor der Gefahr, daß Hitler diese Methoden auf die Außenpolitik übertragen könnte.“ Werner Pünder in „Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte“, Heft 4, 1971)
Politische Diskussionen will sie jetzt vor der Kamera nicht führen. Für sie ging es damals nur um Filmtechnik.
Riefenstahl: Ich hatte zwar 30 Kameraleute, aber nicht hier im Stadion, denn es waren ja auch Schwimmkämpfe, in Grünau, in Kiel, auf dem Maifeld gab es Kämpfe, in Hallen. Die Kameraleute waren also verteilt.
Vieles von dem, was heute im Zeitalter der elektronischen Live-Berichterstattung selbstverständlich ist, hat Leni Riefenstahl damals zum ersten Mal ausprobiert und damit ein für allemal den Standard für Sportfotografie gesetzt. Ein Segelboot im Schlepptau – dramatische Szenen, an die man beim Wettkampf nicht nahe genug herankommt, werden während des Trainings vorgedreht und später in das Material der wirklichen Kämpfe mit eingeschnitten. Manche Sequenzen erreichen damit in ihrer Dramatik Spielfilmniveau.
Riefenstahl: Ich muß sagen, je mehr Kameraleute es waren, desto schwieriger war die Arbeit. Denn ich mußte ja jedem einzelnen seine Aufgabe zuteilen. Das konnte ich immer nur nachts machen, wenn die Arbeiten am Tage vorbei waren. Da haben wir eine Regiebesprechung gehabt, und jeder einzelne hatte gerade fünf Minuten Zeit, mit mir zu sprechen, bekam seine Aufgabe zugewiesen, je nach seinem Können.
Die Logistik dieser Operation war beachtlich. Leni Riefenstahl hatte mit ihrer generalstabsmäßigen Planung 170 Mitarbeiter unter ihrer Kontrolle.
Lantschner: Ich muß sagen, ich habe sie bewundert. Sie hat wirklich wahnsinnig viel vom Bild verstanden. Sie hat ein kolossales Auge gehabt. Und die Motive, die sie ausgewählt hat, waren wirkliche Motive.
Frentz: Sie war energisch, und sie hat vieles durchgesetzt. Als wir beim Olympia-Film verboten bekamen, die große Grube, die wir ausheben ließen, um von unten den Stabhochsprung zu bekommen…, da kam das Olympia-Komitee und sagte: Das geht nicht. Da werden die Leute gefährdet. Da sagte die Leni: Da geh‘ ich mal hin. Sie ging zum Olympia-Komitee und sagte (mit weinerlicher Stimme): Unser ganzer Film geht kaputt, wenn wir das nicht drehen dürfen! Und sie kam zu uns am Abend und sagte: Ha, wir dürfen drehen; ich hab‘ geheult!
Die Olympiade als perfekt organisierte Sportveranstaltung bot den Nationalsozialisten die Gelegenheit, ihr Deutschlandbild zu präsentieren: eine friedliche, tolerante und kraftvolle Nation. Man würde annehmen, dies hätte Hitler begeistern müssen.
Riefenstahl: Hitler war gar nicht erfreut, als er erfuhr, daß ich den Film machte. Denn Hitler war an der Olympiade überhaupt nicht interessiert. Er mochte sie gar nicht. Ich habe das selbst von ihm erfahren. Ist ja auch verständlich: War denn Hitler begeistert, wenn Schwarze siegen und wenn er diese internationalen Leute sieht, wo er so national eingestellt war?
Müller: Es war doch eigentlich eine gute Gelegenheit, ein bestimmtes Deutschlandbild dem Ausland zu präsentieren.
Riefenstahl: Ja, könnte man meinen. Aber Hitler war überhaupt nicht interessiert. Und es mußten ihn alle überreden, daß er überhaupt ins Stadion kam. Ihm hat auch das Stadion nicht gefallen. Er fand das viel zu klein, es hat ihm architektonisch nicht gefallen. Sie können alle fragen, die noch am Leben sind, die werden Ihnen das bestätigen.
Müller: 400 Kilometer Film – wie haben Sie diese Materialberge in den Griff bekommen?
Riefenstahl: Vor allen Dingen kann man gar nicht verstehen, warum wir so viel gedreht haben. Da muß man dran denken, daß es 136 verschiedene Sportarten gab. Und bei den Zwischenläufen der Leichtathletik wußte man ja nicht, ob ein Weltrekord gelaufen wurde. Das heißt, man mußte einfach alles aufnehmen, und das gab diese Unmenge von Film.
Auch hier kann Leni Riefenstahl nur mit ihrem legendären Ordnungssinn den Überblick behalten – und der unermüdlichen Hilfe von ergebenen Mitarbeitern. Zwei Jahre saß Leni Riefenstahl für die Olympiafilme am Schneidetisch. Von Anfang an hat sie alle ihre Filme selbst geschnitten.
Riefenstahl: Dieses kleine Gerät, eine Erfindung von Dr. Fanck, hat es ermöglicht, daß man sehr schnell arbeiten kann, einfach deshalb, weil man die Filmstreifen, die hier hängen, nicht in diese Rollen einspannen muß, was sehr viel Zeit braucht, sondern einfach in dieses Gerät. Und dann kann ich hier durchschauen und genau nach der Bewegung schneiden. Und wenn mir die Szene nicht gefällt, wird sie einfach hier heruntergerollt, oder ich hänge sie mir um, falls sie doch noch in Frage kommt, und nehme mir eine von diesen Szenen heraus, vergleich sie mit dieser Szene und habe dadurch die Möglichkeit, ohne zu übertreiben, zehnmal schneller arbeiten zu können. Natürlich eignet sich dieses Gerät nur für Dokumentarfilme, nicht für Spielfilme, weil hier der Ton erst nachträglich gemacht wird.
Eine der schwierigsten Sequenzen: der Marathonlauf. Chronik einer monotonen Dauerbelastung. Auch hier arbeitet Leni Riefenstahl mit Mitteln des Spielfilms.
Riefenstahl: Ich habe eigentlich mir nur überlegt: Wie kann ich 42 Kilometer Lauf in wenigen Minuten so gestalten, daß es spannend und interessant ist? Und da ist mir sehr schnell der Gedanke gekommen, daß ich das nicht damit erreichen kann, daß ich 42 Kilometer von einer Stelle zur anderen Filmaufnahmen mache, sondern als Höhepunkt den inneren Zustand des Marathonläufers versuche darzustellen. Und das konnte ich dadurch vielleicht zum Ausdruck bringen, daß ich die große Erschöpfung in seinem Gesicht zeigte, was er fühlte, wie seine Beine wie Blei wurden, daß er aber nicht zusammenbrach, sondern durch den Willen – und den Willen konnte ich ja optisch nicht zeigen, den mußte ich durch die Musik darstellen. Darum, wenn Sie darauf achten, ist in diesem Augenblick die Musik ganz peitschend. Die Musik drückt den Willen aus: Er will nicht zusammenbrechen, er will das Stadion erreichen. Die Kamera zeigt aber, von oben aufgenommen, was wir im Training gemacht haben, die müden Beine, die fast am Asphalt klebten. Und dieser Zustand, der hat den vielleicht über die normale Reportage hinausgehoben.
(Ausschnitt aus einer französischen Dokumentation zur Filmpremiere 1938.)
Riefenstahl: Für das Turmspringen der Männer haben wir sehr viel experimentiert. Denn normalerweise war das langweilig, nur eine Aufnahme zu machen, wie der Springer runterspringt. Wir haben für das Turmspringen drei Kameras eingesetzt. Oben stand Gustav Lantschner mit einer Handkamera, während unten Hans Ertl mit der Unterwasserkamera stand, und da drüben war die Zeitlupe, so daß das Turmspringen von allen Seiten gefilmt werden konnte. Am interessantesten und das größte Experiment waren natürlich die Unterwasseraufnahmen, die zum ersten Mal gemacht worden sind. Ertl hatte sich ja eine Kamera konstruiert und saß im Wasser und hat den Springer von oben mitverfolgt bis zum Augenblick, wo er in das Wasser kam, Zeitlupe, Distanz und außerdem die Belichtung, geht mit dem Taucher mit und kam wieder hoch. Auch beim Schwimmen haben wir Experimente gemacht, drüben bei dem Wettschwimmen, da sind wir im Training mit Gummibooten langsam vorgefahren, hatten die Kamera an einen Galgen gehängt, und so konnten wir ganz nah die Köpfe der Schwimmer bekommen.
Ästhetischer Höhepunkt der Montage wird das Turmspringen.
Riefenstahl: Ich habe eine Steigerung versucht, das heißt, ich habe ganz realistisch angefangen. Bei dem Frauenspringen erfährt man noch die Namen der Springerinnen. Bei den Männern habe ich das schon weggelassen und nur noch auf das Springen, auf die Bewegung geschnitten, weil das wirklich aussah, als wenn Vögel durch die Luft schwebten. Und das war natürlich reizvoll. Um das zu steigern, habe ich hinterher verschiedene Tempi angewendet. Wenn Sie darauf achten, werden die ersten mit normalem Tempo springen, und die nächsten Springer sind ein bißchen schon Zeitlupe. Dann wieder etwas mehr und immer mehr, bis es zur Zeitlupe wird. Das war aber noch nicht genug. Die mußten also wirklich, sagen wir mal, wie Vögel wirken.
Nur am Schneidetisch kann man feststellen, daß sie einige Aufnahmen umgekehrt kopieren ließ. Einige Springer tauchen aus dem Wasser auf, schweben hoch in die Luft und landen wieder oben auf dem Sprungturm.
Riefenstahl: Dadurch habe ich erreicht, daß ich ab und zu eine Aufnahme umgekehrt eingeschnitten habe, daß der Springer nach oben ging, was man kaum bemerkte. Es hat nur die Bewegung verstärkt. Es ist also eine künstlerische Ausdrucksform gewesen.
Die Olympia-Filme sind in der Bildästhetik bis heute unübertroffen. Sind sie auch Ausdruck des faschistischen Geistes, der damals in Deutschland herrschte? Die Frage bleibt unbeantwortet. Die Premiere der Olympia-Filme fand an Hitlers 49. Geburtstag statt. Anschließend geht Leni Riefenstahl mit den Filmen auf Tournee durch ganz Europa. Überall erntet sie triumphalen Erfolg. Auf der Biennale in Venedig gewinnt sie den Goldenen Löwen.
Goebbels: Der Deutsche Filmpreis 1937/38 wurde Frau Leni Riefenstahl für ihr Filmwerk „Olympia. Fest der Völker. Fest der Schönheit“ zuerkannt.
April 1938. Premiere in Wien. Riefenstahl: Das ist das erste Mal, seit unser Führer die Macht ergriffen hat, daß ich hier sein darf.

Im November kommt es zur berüchtigten „Reichskristallnacht“, dem ersten großen Judenpogrom in Deutschland. Doch da ist Leni Riefenstahl bereits wieder unterwegs, nach Amerika. Daß in Deutschland die Synagogen brannten, erfährt sie erst später. Ihre Reise nach Hollywood wird darauf ein Fiasko. Die erste Nachricht erreicht Leni Riefenstahl noch auf dem Schiff nach New York.
Riefenstahl: Ich hab‘ das nicht geglaubt, ich konnte das nicht glauben! Denn ich hatte in den amerikanischen Zeitungen so viele falsche Dinge über Deutschland gelesen. Ich dachte, das ist eine Lüge. Und so habe ich gesagt: It is nothing true what the american newspapers write about the Nazis. Und dann stand ganz groß in der Presse, wie ich in New York ankam, auf der einen Seite: „Die Synagogen brennen. Geschäfte werden geplündert. Juden werden verfolgt“, auf der anderen: „Leni Riefenstahl says it’s nothing true.“ Wo ich hinkam und man mich gefragt hat, habe ich gesagt: Nein, das kann nicht wahr sein. Das ist unmöglich! Wenn Sie mich fragen, warum ich nicht weggegangen bin aus Deutschland – ja, wissen Sie, ich liebte meine Heimat, und weggegangen sind die Emigranten und die Leute, die verboten waren. Ich konnte arbeiten, ich war frei, und ich hoffte, daß das nie wieder vorkommt. Alle hofften das, daß das ein einmaliges Geschehen war.

(Wochenschaubericht.) Hitler: Jede wahre Kunst muß ihren Werken den Stempel des Schönen aufprägen. Alles Gesunde aber allein ist richtig und natürlich, alles Richtige und Natürliche ist damit schön. Es ist auch ebenso unsere Aufgabe, den Mut zum wahren Schönen zu finden, uns nicht verunsichern zu lassen durch das teils alberne, teils verschwitzte Geschwätz der Literaten, die versuchen, das Natürliche und damit Schöne als Kitsch zu verrufen.
Riefenstahl: Die Bilder die ich dort sah, waren schrecklich, waren Kitsch. Es war alles Kitsch. Ich habe kaum ein Bild gefunden, das mir gefallen hat. Ich war damals ganz enttäuscht, denn meine Liebe war die moderne Malerei, abgesehen von den französischen Impressionisten, von Cranach. Aber das, was die Nationalsozialisten als Kunst empfanden oder bewunderten, das war für mich Kitsch.
(Ausstellung „Entartete Kunst“.) Kommentator: Für die Reinheit und Sauberkeit des deutschen Kunstempfindens hat der wurzellose Jude kein Organ. Was er Kunst nennt, muß seine entarteten Nerven kitzeln. Ein Geruch von Fäulnis und Krankheit muß es umwittern. Es muß widernatürlich, grotesk, pervers oder pathologisch sein. Diese Fieberfantasien unheilbar kranker Hirne wurden einst von jüdischen Kunsttheoretikern der Öffentlichkeit als eine höchste künstlerische Offenbarung aufgeredet.
Mußten solche Reden eine sensible Künstlerin nicht nachdenklich machen? Nach alldem, was in Deutschland bis dahin bereits geschehen war?
Riefenstahl: Hitler hielt eine Rede über Kunst, und das stimmte nicht. Da habe ich mir gedacht: Wenn er sich so irren kann über Kunst und so überzeugt über Kunst spricht, so überzeugt, daß viele das glaubten, was er sagte, vielleicht irrt er sich auch in der Politik. Und ich bekam damals – das weiß ich ganz genau – echte Zweifel und habe von da an alle Reden viel kritischer mir angehört, ohne daß ich eine Gegnerin wurde – das muß ich ganz ehrlich zugeben.

1939. Deutsche Truppen marschieren in Polen ein. Leni Riefenstahl meldet sich als Kriegsberichterstatterin an die Front. Doch bereits am ersten Tag wird sie Zeuge einer brutalen Auseinandersetzung zwischen der Wehrmacht und polnischen Zivilisten. Ein Foto dokumentiert ihr Entsetzen. Sie beschwert sich beim zuständigen General und reist sofort ab.
Juni 1940. Deutsche Truppen marschieren in Paris ein. Der Blitzkrieg im Westen ist zuende. Aus diesem Anlaß schickt Leni Riefenstahl ein euphorisches Telegramm: „Führerhauptquartier. Mit unbeschreiblicher Freude, tief bewegt und erfüllt mit heißem Dank erleben wir mit Ihnen, mein Führer, Ihren und Deutschlands größten Sieg, den Einzug deutscher Truppen in Paris. Mehr als jede Vorstellungskraft menschlicher Fantasie vollbringen Sie Taten, die ohnegleichen in der Geschichte der Menschheit sind. Wie sollen wir Ihnen nur danken? Glückwünsche auszusprechen, das ist viel zu wenig, um Ihnen die Gefühle zu zeigen, die mich bewegen.“
Riefenstahl: Wissen Sie, damals habe ich nicht wegen der Truppen und des Sieges in Frankreich ein Telegramm geschickt, sondern ganz Deutschland glaubte damals an ein Ende des Krieges. Wir waren in einem Taumel, einem Freudentaumel. Drei Tage lang läuteten in Deutschland die Glocken. Die Menschen auf den Straßen haben sich umarmt und geküßt. Alle glaubten, der schreckliche Krieg ist zuende. Und aus dieser Stimmung heraus habe ich auch ein begeistertes Telegramm an Hitler geschickt.
Doch vom Ende des Krieges war keine Rede. Nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion weitet sich der Krieg in Europa zum Weltkrieg aus.

Leni Riefenstahl ist von alldem weit entfernt. Sie zieht sich zurück in die Berge und beginnt mit den Dreharbeiten zu „Tiefland“ (1954), eine Opernverfilmung. Die heile Bergwelt wird konfrontiert mit den finsteren Mächten im Tal.
Riefenstahl: Es war eigentlich eine Notlösung, weil ich mich, sagen wir mal, davor drücken wollte, Kriegsfilme machen zu müssen. „Tiefland“ war ein neutrales Thema, und da der Olympia-Film so viel Geld gebracht hatte, war ich vollkommen frei und hatte genügend Geld, um einen Film zu machen mit rein künstlerischen Perspektiven.
Wieder kann Leni Riefenstahl tanzen. In der Geschichte geht es um einen sozialen Konflikt zwischen Kleinbauern und Großgrundbesitzern. Sie spielt in Spanien. Da für die Dreharbeiten später auch in Bayern südländische Komparsen benötigt werden, läßt die Produktion über das Arbeitsamt Zigeuner holen. Sie kommen aus dem Zwangslager Leopoldskron bei Salzburg. Das Engagement dieser Leute zu einer Zeit, als alle Nichtarier bereits verfolgt wurden, hat man der Regisseurin immer wieder erbittert vorgeworfen. Bis in jüngste Zeit kam es darüber zu Prozessen. Zu Beginn des Films erhält sie mit Unterstützung des Führers noch die nötigen Devisen, um den Film in Spanien zu beginnen. Aber die Produktion ist vom Pech verfolgt.
Riefenstahl: Es war eine Katastrophe von Anfang an. Es fing damit an, daß wir zuerst schon alle Motive in Spanien gesucht hatten und damit einen ganz billigen Film hätten machen können. Dann kam der Krieg, und wir konnten nicht in Spanien bleiben. Unsere Leute sind mit der letzten Maschine noch eben rausgekommen. Jetzt mußten wir diese ganzen Dekorationen bauen vor einem Gebirge. Das heißt, wir mußten in Bayern ein ganzes Dorf aufbauen. Dann kam der Schnee, hat das Dorf kaputtgemacht. Es mußte im nächsten Jahr wieder aufgebaut werden. Und dann war’s kein kriegswichtiger Film. Wir bekamen kein Atelier, mußten zwei Jahre warten. Hatten wir aufgebaut, die Bauten, mußten wir sie wieder abbauen, weil kriegswichtige Filme gemacht wurden.
Müller: Viele dieser Bilder wirken ja wie Gemälde. Wie haben Sie diese Effekte erzielt?
Riefenstahl: Es war die Absicht, für diesen Film uns ganz aufs Optische zu konzentrieren, um die Schwarzweiß-Filmkunst zu erhalten. Denn damals war ja der Umbruch von Schwarzweiß zu Farbe. Und da Schwarzweiß eine besondere Kunst ist wie die Grafik, wollte ich einen Film machen, mit dem man beweisen kann, daß man mit Schwarzweiß Effekte erzielen kann, die man mit Farbe schlecht oder überhaupt nicht erreichen kann. Ich habe sehr viel mit Verlauffiltern gearbeitet, mit Orangefiltern. Diese Aufnahme war vielleicht abgeblendet auf 3,2, damit die Luft da ist, die Atmosphäre. – Also ich habe bei meinem Film immer darauf geachtet, daß die Männer eine andere Beleuchtung hatten als die Frauen: mehr Seitenlicht, um die Züge markant zu machen, während bei den Frauen es wichtig ist, daß sie jung und schön erscheinen. Und da kann man mit der Beleuchtung eine Frau um 20 Jahre jünger oder älter machen, je nachdem, woher das Licht kommt. Wenn es sich um eine junge Frau handelt, die jung und schön aussehen soll, dann muß sie ein ganz weiches Vorderlicht haben, überhaupt kein Seitenlicht, damit keine Markierungen im Gesicht sichtbar werden. Denn wirklich hübsch zu fotografieren sind eigentlich nur Babys, weil die überhaupt keine Falten haben. Aber bei einer Frau können Falten, auch wenn sie noch so leicht sind, stärker erscheinen als in Wirklichkeit, und darum ist es sehr wichtig, daß das Licht von vorne kommt. Zum Beispiel Marlene Dietrich: Die hatte immer dieselbe Beleuchtung. Da war die Lampe ganz oben. Das machte Schatten auf den Wangen, das machte sie da ganz schlank. Und eine andere Frau braucht wieder eine andere Beleuchtung.
Müller: Was hatten Sie für eine Beleuchtung?
Riefenstahl: Ich? Ich brauche ein weiches Vorderlicht. Auch ein bißchen von oben – nicht so sehr wie bei der Marlene, weil ich ja nicht so mager aussehen möchte (sie lächelt maliziös).
Noch heute beeindruckt die intensive Atmosphäre der Schwarzweiß-Fotografie.
Riefenstahl: Um das zu erreichen, diesen malerischen Stil, ist es notwendig, zuerst einmal ein Motiv zu suchen, das in der Komposition schon ein Bild ergibt, nicht irgendwo die Kamera hinstellen. Zweitens wird normalerweise bei Außenaufnahmen stark abgeblendet, weil sehr viel Licht da ist. Das ergibt den Effekt, daß man keine Luft hat, keine Atmosphäre. Also alles sehr scharf. Um trotzdem eine gewisse Realität zu haben und die Schärfe zu vermeiden, habe ich ganz starke dunkle Filter verwendet, um gar nicht abzublenden, sondern das Licht durch Filter wegzunehmen. Dadurch habe ich diese malerische Wirkung, zum Teil auch durch Schwarzfilter. – Also diese Hütte, die Sie hier sehen, haben wir nicht gebaut und dann gefilmt, sondern wir haben erst das Motiv gesucht, die Kamera hingestellt und dann die Hütte durch das Auge der Kamera aufgebaut, damit das ganz genau in dieser Komposition möglich ist. Und dadurch haben wir diesen harmonischen Effekt. – Als der Film beinahe fertig war, war das Kriegsende da, und dann wurde alles nach Frankreich verschleppt. Und da lag dann das Material zehn Jahre, und die Franzosen haben daran rumgeschnipselt und haben versucht, einen Film zu machen. Und da ging sehr viel Material verloren. Und dann brauchte ich mehrere Anwälte, um das Material überhaupt wiederzubekommen und dann es zusammenzusetzen. Es war eine wirkliche Odyssee.
Während Leni Riefenstahl an „Tiefland“ arbeitet, geht der Krieg in seine Endphase. Als Berlin pausenlos bombardiert wird, verläßt Leni Riefenstahl mit ihrer Produktionsfirma die Hauptstadt und zieht um nach Tirol. Am Fuße des Wilden Kaisers bezieht sie einen Bauernhof bei Kitzbühel. Eine idyllische Zuflucht, mitten im totalen Krieg. Hier schneidet Leni Riefenstahl bis in die letzten Kriegstage an „Tiefland“. Besessen von ihrer Arbeit hört sie nur die Bomber, die täglich nach Berlin fliegen. Wann ist damals ihr Bild von Hitler zerbrochen?
Riefenstahl: Es ist ganz zerbrochen, leider viel zu spät, erst gegen Ende des Krieges, als ich bemerkte, daß er nicht die zerbombten Städte sich ansah – jede Nacht diese brennenden Städte und das ganze Unglück. Und als er so weit ging, daß er sogar Volkssturm und Kinder einzog, da war ich entsetzt, da war das Bild total zerbrochen.
Müller: Wann haben Sie denn Hitler zum letzten Mal gesehen?
Riefenstahl: ich habe ihn zuletzt gesehen nach meiner Kriegstrauung. Die war am 21. März 1944. Und da bekamen wir eine Einladung, mein Mann und ich, zum Berghof zu kommen. Und da habe ich ihn zum letzten Mal ganz kurz gesehen, und da war er schon ganz abwesend und hat nur im Monolog gesprochen. Also da empfand ich ihn gar nicht mehr wie einen realistischen Mensch, sondern wie einen Geist.
Endkampf um Berlin. Im April 1945 ist Deutschland am Ende. Das Land liegt in Trümmern. Leni Riefenstahl wird in Kitzbühel verhaftet.
Riefenstahl: Es war eine Zeit, die man gar nicht beschreiben kann, so traurig, so grausam. Alle Ideale waren zerbrochen. Man konnte das alles gar nicht begreifen. Es war ein fürchterlicher Absturz. Bei meinem ersten Verhör bei den Amerikanern zeigte man mir Bilder aus den Konzentrationslagern. Vorher hatte ich nie etwas davon gehört. Und das war so ein fürchterlicher Schock für mich, daß ich es gar nicht glauben konnte. Es war mir unmöglich zu glauben, daß so etwas menschenmöglich war und daß das tatsächlich auf Hitlers Befehl geschehen sein sollte.
(Anmerkung: Ihre Komparsen für „Tiefland“ waren aus einem solchen Lager gekommen und gingen nach den Dreharbeiten überwiegend nach Auschwitz. Gerichte stellten wiederholt fest, daß sie die Sinti zwar nicht entlohnt hatte, daß aber nicht beweisbar war, daß sie von ihrem Schicksal wußte.)
Riefenstahl: Es hat eine Zeit gedauert, bis ich das alles glauben mußte. Und damit zerbrach ja mein ganzes bisheriges Leben, denn ich hatte Hitler geglaubt. Und das war so erschütternd, daß das Persönliche eigentlich alles in den Hintergrund trat. Es gab nur noch zwei Möglichkeiten: entweder mit dieser entsetzlichen Belastung und Schuld, die auf uns ruhte, zu leben oder zu sterben. Es war ein ständiger Kampf: leben oder sterben.
Diesen Kampf hatten in Europa bis dahin 60 Millionen Menschen bereits verloren. (Fortsetzung folgt)
Peter L. Opmann ist offline   Mit Zitat antworten