Thema: Filmklassiker
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Alt 02.10.2023, 06:14   #1606  
Peter L. Opmann
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Dieser Film ist in einer günstigen „Film noir“-Box erhältlich. Da könnte ich meine VHS-Aufnahme einfach wegwerfen. Trotzdem mußte ich ihn jetzt mal digitalisieren, denn „Das unbekannte Gesicht“ (1947) von Delmer Daves ist einer der ersten Filme, die ich gesehen habe, nachdem ich mich entschlossen hatte, mich mit Kinogeschichte zu beschäftigen. Das war etwa 1983. Und er hat gleich nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht, weil er von einem Kniff lebt: Hauptdarsteller Humphrey Bogart ist hier rund 60 Minuten lang gar nicht zu sehen; das Geschehen wird aus seinem Blickwinkel geschildert (also subjektive Kamera). Dann erlaubt sich Regisseur Daves sozusagen einen Scherz: Die Figur, mit deren Augen der Zuschauer den Film sieht, unterzieht sich einer Gesichtsoperation, und dann kommt unter dem Kopfverband das Gesicht Bogarts zum Vorschein. „Ich sehe älter aus“, sagt er, als er sich im Spiegel betrachtet, „aber zum Glück bin ich es ja nicht.“ Meine Videoaufnahme stammt etwa von 1990.

Ich bin nicht sicher, ob dieser Film noir sehr bekannt ist, obwohl er öfter im Fernsehen zu sehen war. Es war der dritte gemeinsame Film des Paars Bogart und Lauren Bacall (von vier). Der Trick funktioniert nach wie vor sehr gut. Der bekannteste Film mit subjektiver Kamera ist wohl „Halloween“, der allerdings viel später entstand. Es gab für Daves Vorbilder, aber ihm wird bescheinigt, er habe das Stilmittel am wirkungsvollsten eingesetzt. Freilich ist die Handlung – auf die man nicht unbedingt so sehr achtet – ziemlich konstruiert. Aber ich mußte an Hitchcock und sein Wort von den „Wahrscheinlichkeitskrämern“ denken, für die er nichts übrig hatte. „Das unbekannte Gesicht“ ist allerdings im letzten Drittel nicht mehr sehr überzeugend und kommt daher an die meisten Hitchcocks nicht heran.

Bogart sitzt wegen Mordes an seiner Frau (den er nicht begangen hat) in San Quentin. Ihm gelingt aber die Flucht. Er entledigt sich seiner Gefängnisjacke und will in San Francisco untertauchen. Der erste Mann (Clifton Young), der ihn im Auto mitnimmt, schöpft allerdings Verdacht. Bogart schlägt ihn k.o. und flieht zu Fuß weiter. Dann läuft er Bacall in die Arme (ihm völlig unbekannt), die ihm sofort anbietet, ihn in ihrer Wohnung zu verstecken. Das ist zwar merkwürdig, aber Bogart hat keine Wahl. Während er bei ihr ist, klopft Agnes Moorehead an die Tür, zufällig eine gute Freundin seiner Frau, die offenbar auch mit Bacall befreundet ist. Bogart schickt sie weg. Er findet heraus, daß Bacall seinen gesamten Prozeß verfolgt hat und ihn beinahe als einzige für unschuldig hält. Aber er glaubt, sich Gefühle für sie nicht leisten zu können, und will sich, sobald er neue Kleider besitzt, allein durchschlagen. Der Taxifahrer, in dessen Cab er sitzt, erkennt ihn, will ihm aber ebenfalls helfen. Er kennt einen illegalen Gesichtschirurgen (Housley Stevenson in einer bizarren Rolle), der jedoch eine Koryphäe auf seinem Gebiet ist. Für 200 Dollar (!) verschafft er ihm ein neues Aussehen.

Bogart will sich bei einem Freund (Rory Mallinson) verstecken, bis er den Verband abnehmen kann. Den findet er aber ermordet. Bogart sieht nur noch die Möglichkeit, zu Bacall zurückzukehren. Nun beginnt er endgültig eine Romanze mit ihr. Er findet heraus, daß ihr Vater ebenfalls unschuldig im Knast saß. Bogart hat vor, über Arizona nach Südamerika zu gehen, aber er hält es für unmöglich, sie mitzunehmen („Casablanca“ läßt grüßen). Als sein Gesicht verheilt ist, läuft er zunächst einem Polizeispitzel in die Arme, den er loswerden kann. Dann trifft er Young wieder, der ihn zu erpressen versucht. Young hat herausgefunden (was Bogart nicht wußte), daß Bacall vermögend ist. Dafür, daß er ihn laufenläßt, soll sie 200 000 Dollar bezahlen. Bogart kann jedoch Young überwältigen und töten. Dann geht er zu Moorehead, die ihn zunächst nicht wiedererkennt. Von Young hat er erfahren, daß sie für die Morde an seiner Frau und seinem Freund verantwortlich ist. Er will sie dazu bringen zu gestehen, aber sie weigert sich. In der Auseinandersetzung stürzt sie aus einem Hochhausfenster und stirbt. Nun, so meint er, kann er seine Unschuld nie mehr beweisen. Er kehrt noch einmal zu Bacall zurück und verrät ihr, in welchen peruanischen Küstenort er gehen will. Sie soll mehrere Jahre warten und ihm dann folgen. Am Ende sitzt er in einer stilvollen Bar in dieser Stadt. („Casablanca“ läßt grüßen.) Da kommt Bacall herein – sie hat ihn gefunden.

Dem Film liegt der Roman „Dark Passage“ von David Goodis zugrunde. Daves hat selbst das Drehbuch geschrieben. Vielleicht wird das Geschehen im Roman plausibel erklärt – der Film schafft es gewiß nicht. Aber es stört nicht sehr. Bogart nicht zu sehen, bis er das Gesicht Bogarts hat, finde ich noch immer einen spannenden Kunstgriff. Ich dachte, ich hätte mal gelesen, daß man so wenige Drehtage mit ihm wie möglich wollte, damit seine Gage nicht zu hoch ausfällt. Diese Geschichte habe ich allerdings in meiner Filmliteratur und auch im Internet nicht mehr gefunden. In wikipedia steht dagegen, daß Bogart von dem Roman sehr angetan war und als erster eine Verfilmung im Sinn hatte. „Das unbekannte Gesicht“ gehört wohl nicht zu den besten Filmen der schwarzen Serie, aber ein guter Film noir ist es schon. Es fehlen ein wenig die unvergeßlichen Momente, aber die Beziehung zwischen Bogart und Bacall ist insgesamt vielschichtiger und eindringlicher als in „The Big Sleep“. Ja, diesen Film mußte ich mir endlich mal wieder anschauen.
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