Thema: Filmklassiker
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Alt 30.05.2023, 06:05   #1250  
Peter L. Opmann
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Bleiben wir noch ein bißchen bei den 1940er Jahren. Frank Capra ist ein problematischer Fall. Mit der Art von Sozialmärchen, die er drehte, hatte er eine unverwechselbare Handschrift. Das Amerika, das er zeigte und auch idealisierte, dürfte allerdings endgültig untergegangen sein (wenn es je existiert hat). Man hat beim Ansehen das unangenehme Gefühl, daß seine Filme keine Botschaft für heute mehr haben. Trotzdem wollen wir uns eines seiner bekannteren Werke mal näher ansehen: „Hier ist John Doe“ (oder auf der DVD mit Originaltitel „Meet John Doe“) von 1941. Der Film erschien kurz vor dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg.

Die Story ist sehr ungewöhnlich und zugleich typisch für den Regisseur, der als einer von wenigen in Hollywood seinen Namen über den Filmtitel setzen konnte. Eigentlich besteht sie aus zwei nur locker verbundenen Teilen. Eine Zeitung wird verkauft und die Hälfte der Redakteure entlassen (es ist aber diesmal nicht schwerpunktmäßig ein Reporterfilm). Auch Barbara Stanwyck fliegt, tischt aber in ihrem letzten Artikel eine so spektakuläre Geschichte auf, daß sie doch bleiben und die Sache weiterverfolgen darf. Sie hat sich einen John Doe (deutsch etwa „Otto Normalverbraucher“) ausgedacht, der sich zu Weihnachten umbringen will, weil er sozusagen mit der Gesamtsituation unzufrieden ist. Das zeitunglesende Amerika ist empört; die Zeitungsauflage steigt in schwindelerregende Höhen. Die Konkurrenz mutmaßt sofort, daß dieser John Doe nur erfunden ist, aber Stanwyck rettet ihr Erfolgskonzept, indem sie einen Landstreicher (Gary Cooper) zu John Doe macht und in einer Radiosendung reden läßt. Darauf gründen sich im ganzen Land John-Doe-Clubs, die zu alten amerikanischen Tugenden zurückkehren wollen: Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt, Menschlichkeit.

Zweiter Teil: Der Zeitungsherausgeber (Edward Arnold) befürwortet und unterstützt die Pressekampagne. Mit der Zeit stellt sich aber heraus, daß er die John-Doe-Clubs als Wählerreservoir betrachtet, das es ihm ermöglichen soll, US-Präsident zu werden. Anscheinend wollen er und ein paar weitere Finsterpolitiker die USA nach seinem Wahlsieg in eine Diktatur verwandeln, was aber nur vage angedeutet wird. Man hatte damals aber immerhin Hitler-Deutschland klar vor Augen. Als Cooper sich weigert, sich für diesen üblen Plan einspannen zu lassen, entlarvt ihn Arnold als Lügner und Betrüger. Die John-Doe-Bewegung bricht zusammen (wobei das für seinen geplanten Griff nach der Macht auch nicht gut ist). Cooper bleibt jedoch ein letzter Ausweg: Zu Weihnachten will er sich, wie ursprünglich angekündigt, tatsächlich von einem New Yorker Hochhaus in den Tod stürzen. Arnold und seine Kumpane können ihn nicht daran hindern, dafür aber Stanwyck, die ihm ihre Liebe gesteht und ihm vor Augen führt, daß die John-Doe-Bewegung wiederbelebt werden kann, wenn er wieder zu den Leuten spricht. Happy End.

Ich habe das Gefühl, in diesem Film steckt die Idee, daß eine große Rede ein ganzes Land verändern kann – wie etwa Lincolns Gettysburg Address. Halte ich heute für extrem schwierig. Selbst ein Donald Trump muß permanent Fake News verbreiten, um seine Anhängerschaft bei der Stange zu halten. Und natürlich stört aus heutiger Sicht, daß die Figuren im Film entweder grenzenlos idealistisch (und oft naiv) oder abgrundtief berechnend, machtgierig und böse sind. Sicher, die Geschichte kann wohl nur so funktionieren, aber man würde die heute eben ziemlich anders erzählen (müssen). Mir fiel dazu ein Stanwyck-Film ein, der kurz zuvor entstanden und der interessanterweise auch ein Weihnachtsmärchen ist: „Die unvergeßliche Nacht“ (habe ich ziemlich zu Anfang dieses Threads besprochen). Aber dieser Film bleibt ganz auf der John-Doe-Ebene; ob die große Politik in Ordnung oder verkommen und korrupt ist, spielt da keine Rolle. Vielleicht hält man die sentimentale Komödie aus diesem Grund für schmalzig, aber nicht unbedingt für zu idealistisch (wie im Fall Capra).

Mit Frank Capra habe ich mich bisher nicht so viel beschäftigt (habe aber noch den einen oder anderen Film von ihm in meinem Archiv). Man kann wohl sagen, daß er sich nicht durch einen besonderen technischen Stil auszeichnet. Es gibt vielmehr typische Capra-Stoffe. „Meet John Doe“ punktet zudem durch eine hervorragende Schauspielerführung und sehr gute darstellerische Leistungen. Gary Cooper war als John Doe wohl die Idealbesetzung (auch wenn James Stewart bei Capra ebenfalls gut zur Geltung kommt). Barbara Stanwyck gehört ohnehin zu meinen Lieblingsschauspielerinnen – allerdings gefällt sie mir hier als clevere Journalistin deutlich besser als als Frau, die ihr Herz an einen anständigen Kerl verliert. Zudem arbeitet Capra mit hervorragenden Nebendarstellern: Walter Brennan ist Coopers Landstreicher-Kumpel, der ihn schon früh vor den Machenschaften warnt, auf die er sich einzulassen anschickt. Edward Arnold ist in erster Linie für seine Auftritte in Capra-Filmen bekannt, die jeweils sehr ähnlich angelegt waren. Hinzu kommen James Gleason als Chefredakteur, Ann Doran als John-Doe-Fan oder Sterling Holloway als Barmann. Die entscheidende Frage: Kann ich den Film empfehlen? Er ist gut gemacht; man wird aber wohl nicht mehr auf den Gedanken kommen, daß er irgendetwas mit der Wirklichkeit zu tun haben könnte.
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