Thema: Filmklassiker
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Alt 06.05.2023, 07:06   #1198  
Peter L. Opmann
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Und hier der dritte und letzte Teil der Stroheim-Doku:

Swanson versuchte, den Film ohne Regisseur fertigzustellen. Aber 1929 war das Ende des Stummfilms gekommen. Nach den beiden Katastrophen von „Hochzeitsmarsch“ und „Queen Kelly“ mußte von Stroheim wieder Boden unter die Füße bekommen. Als er keine Arbeit als Regisseur finden konnte, traf er eine folgenschwere Entscheidung: Er erklärte sich bereit, in einem kleinen Tonfilm eine Rolle zu spielen.

„Der große Gabbo“ (1929)

Kohner: Als von Stroheim in Hollywood mehr oder weniger verspielt hatte, überredete ich Mr. Laemmle, ein Remake von „Blinde Ehemänner“ zu machen. Ich sitze also in meinem Büro, da kommt ein Regieassistent: Paul, komm schnell mit – von Stroheim ist wahnsinnig geworden! Ich sehe Von auf und ab spazieren und seinen Spazierstock zerbrechen. Sein Assistent gibt ihm einen neuen – er zerbricht auch den. Was ist los, Von, frage ich. Die Glocken, sagt er, ich will sie alle. Ich: Von, du kannst nicht alle haben. Sag mir, welchen Klang du willst. – Ich will, daß sie alle am Arrowhead-See aufgehängt werden. Ich sage: Du mußt verrückt sein, Von, warum denn? Er: Weißt du nicht, daß Glocken anders klingen, wenn sie über einem See hängen? – Das mag schon sein, aber so macht man doch keinen Tonfilm. Wir nehmen die Glocken extra auf und legen den Ton dann über die Szene. Er: Sag nur noch, beim Ball soll die Kapelle nicht spielen. – Natürlich nicht, Von, die Kapelle tut nur so, und wir nehmen später die Musik extra auf Band. Die Schauspieler reden doch miteinander, wenn sie tanzen. Da kannst du doch nicht gleichzeitig Musik spielen. – Er rannte wütend aus dem Set. Zehn Minuten später ließ mich Mr. Laemmle kommen. Er sagte: Kohner, ich will nichts hören. Werfen Sie von Stroheim raus, der Film ist gestorben. Da mußte ich zu Von gehen und es ihm sagen.

Nun kamen immer seltener Regieangebote, und von Stroheim arbeitete immer öfter als Schauspieler. Noch einmal spielte er den Mann, den zu hassen Spaß macht, diesmal ohne Uniform.

„Die letzten Vier“ (1932)

Die Legende hatte ihn schließlich eingeholt. Sogar neben Greta Garbo mußte er von Stroheim spielen.

„Wie du mich wünschst“ (1932)

Schließlich kam noch einmal ein Angebot von Winfield R. Sheehan von der Fox. Eine Geschichte, die zur Zeit der Wirtschaftskrise spielt.

„Walking down Broadway / Hello, Sister“ (1933)

Spiegelgass (hier Drehbuchautor): Ich hatte viel über von Stroheim gehört, auch, daß er viel Ärger machte. Er hatte noch nie einen Tonfilm gedreht, und daß ihm niemand einen angeboten hatte, war eigentlich schändlich. Sheehan wollte, daß der Film ein Erfolg wurde, um Louis B. Mayer eins auszuwischen. Mayer hatte geschworen, daß von Stroheim nie wieder als Regisseur arbeiten würde. Jedenfalls formulierte von Stroheim sehr genau, was er mit dem Stück zeigen wollte. Es war die Geschichte zweier junger Männer, die am Broadway zwei Mädchen aufgabeln – sehr amerikanisch. Ich sollte Sheehan genau erklären, daß dies die leidenschaftlichste, erotischste Liebesgeschichte sein würde, die jemals auf der Leinwand zu sehen war.

I. B. Kornblum, Komponist: Als der Film fertig war, wurde er vorgeführt, und ich erinnere mich daran als an den schlimmsten Abend meines Lebens. Ungefähr in der Mitte des Films fing das Publikum an zu lachen. Entweder verstanden sie nicht, was Erich sagen wollte, oder die Leute waren fröhlicher Stimmung.

Spiegelgass: Der Film wurde mit Entsetzen aufgenommen. Es hieß, er könne nur auf einem Kongreß von Psychoanalytikern vorgeführt werden. Es war für lange Zeit die offenste Darstellung sexueller Beziehungen, die das Kino gesehen hatte.

Kornblum: Das Stück ging zurück in den Schneideraum, und Studiochef Sol Wurtzel, der kein schöpferisches Talent war, ließ ihn umschneiden und nannte ihn „Hello, Sister“. Ich habe ihn mir nie angesehen.

Spiegelgass: Eddie Burke schrieb ein neues Drehbuch und machte neue Aufnahmen in der Totalen. Sie haben die Figuren zerstört, und was herauskam, war schwachsinnig.

„Hello, Sister“ kam heraus, ohne daß ein Regisseur genannt wurde. Die Kritiker bemerkten es nicht. Von Stroheim war ein Fossil aus der Stummfilmzeit. Er nahm nun Rollen in zweitklassigen Western oder Melodramen an.

„The Crime of Dr. Crespi“ (1935)

Kohner: 1935 war ich Chefdramaturg bei MGM, und Von kam als Dramaturg zu mir. Sein Talent lag in den dramatischen Situationen und in der Erotik. Und er war fabelhaft in der Charakterisierung und Ausschmückung von Figuren. Er gab dem Regisseur viele gute Tips. Es war kein Abstieg für ihn, wie manche meinten. Er leistete in den Drehbuchbesprechungen viele wichtige Beiträge. Sicherlich hätte er lieber selbst geschrieben. Und ein Drehbuch hat er uns auch verkauft.

„Der Arzt und die Frauen“ (1937)

Kornblum: Heiligabend rief er mich an – damals waren Ferngespräche teuer. Er sagte: Ich will dir auf Wiedersehen sagen. – Wo fährst du hin? Er: Ich bringe mich um. John Farrow und Bob Leonard haben mir einen Korb voller Geld geschickt und eine Urkunde mit allen Unterschriften und Weihnachtswünschen. Das kann ich nicht annehmen. Ich will keine Almosen. Ich sagte: Erich, laß mich zu dir rauskommen. Ich will dich zum Abschied umarmen.

Valerie von Stroheim: Als er kam, sagte er: Willst du Valerie so allein mit eurem Sohn zurücklassen? Nein, sagte er. Er schickte jedem einen Brief mit einem Scheck. Clark Gable hat ihn dreimal zurückgeschickt. Und sogar der Name von Louis B. Mayer steht auf der Karte.

Hollywood gab ihm eine milde Gabe, aber keine Chance, noch einmal Regie zu führen.

Thomas Quinn Curtis, Kritiker: Er hatte ein Angebot, nach Paris zu kommen und einen deutschen Spion in "Marthe Richard au Service de la France“ zu spielen. Und dann ging alles sehr schnell. Jean Renoir wollte ihn haben.

„Die große Illusion“ (1937)

Denise Vernac, Schauspielerin (und Assistentin von Stroheim): Renoir bot ihm eine Rolle in „Die große Illusion“ an. Es gab den Part eines deutschen Fliegers am Anfang und des deutschen Festungskommandanten am Ende des Films. Erich sagte, es sei nicht gut für seine Karriere, eine so kleine Rolle anzunehmen. Und so dachte er nach und fand einen Weg, die beiden Rollen zusammenzulegen. Als er am nächsten Tag ins Studio kam, trug er ein Stützkorsett. Man wußte sofort: Dieser Mann ist abgeschossen worden und hat sich den Hals gebrochen. Die ganze Erklärung in einem Bild. Als er damit ins Studio kam, umarmte ihn Renoir und sagte: Erich, Sie sind der einzige, der in Bildern denkt! Und das war wirklich eine Idee, weil sich jeder an den Mann mit der Prothese erinnert. Seit diesem Augenblick war Erich der Superstar in Frankreich.

Von Stroheim fand in Frankreich nicht nur eine neue Karriere, sondern auch ein neues Leben.

Vernac: Ich versuchte damals, als Schauspielerin anzufangen, und bekam manchmal kleine Jobs vom selben Agenten, der auch Erich vertrat. Der sagte: Gehen Sie ins Hotel Claret, da sehen Sie Erich von Stroheim. Als ich ankam, sah er mich von oben bis unten an, als ob ich nackt wäre, und sagte: Mit einem besseren Nagellack geht’s wohl. Was geht, fragte ich. Zuerst mal schreiben Sie diesen Brief, und dann übersetzen Sie meinen Dialog vom Englischen ins Französische. So begann unsere Zusammenarbeit. Er begriff, daß ich keine Angst vor ihm hatte wie die meisten anderen. Er hatte schrecklich viel Arbeit, und niemand mochte damit anfangen. So wurde ich ein Stroheim-Objekt, das heißt, ich arbeitete Tag und Nacht für Erich.

Curtis: In Frankreich gab es damals viele kleine, unseriöse Filmproduzenten. Es gab Studios, aber die wurden nur vermietet. Man machte keinen Vertrag mit dem Studio, sondern mit dem Produzenten für einen Film. Jeden Morgen vor Drehbeginn verlangte er 1000 Dollar und eine Flasche Whiskey. Viele beschäftigten ihn für fünf oder sechs Tage, um mit seinem Namen Reklame machen zu können. Das war ein alter Trick, denn sein Name brachte Geld in die Kasse.

Vernac: Er spielte einen Chinesen in „Les Pirates du Rail“ (1938) und sah wirklich chinesisch aus. In einem anderen Film trug er eine Maske. Dann spielte er einen französischen Modeschöpfer mit Bärtchen und Perücke. Erich war auch die kleineste Rolle wichtig. In dem Film „Napoleon“ (1954) spielte er Ludwig van Beethoven und sah auch wirklich so aus. Er nahm ein Foto von sich, malte Augenbrauen, eine Perücke oder einen Bart und fand schließlich sein Gesicht. Vor allem erfand er für sich eine Vergangenheit.

„Mademoiselle Docteur“ (1937)

Kohner: Ich wechselte vom Produzenten zum Agenten. Und einer der ersten, die ich zu bekommen versuchte, war Erich von Stroheim, der damals in Europa filmte. Der erste Film, für den ich ihn holte, war „I was an Adventuress“ (1940). Als er einmal hier war, war er sehr gefragt. Damals machte man viele Anti-Nazi-Filme, und darin gab es immer eine Rolle für von Stroheim. Manchmal machte er Filme, die er lieber nicht hätte machen sollen.

„The Mask of Dijon“ (1946)

Er spielte aber auch in einigen sehr interessanten Filmen.

„Fünf Gräber bis Kairo“ (1943) als Feldmarschall Rommel

„Boulevard der Dämmerung“ (1950)

Vernac: Es war eine sehr gute Rolle in einem wichtigen Film. Deshalb konnte er nicht ablehnen. Aber er hat gezögert, weil er das Gefühl hatte, daß seine eigene Karriere verspottet wurde. Er hat es dann doch getan, weil er erkannte, daß es in seinem Leben Zeiten gab, die fast so traurig waren wie die Rolle, die Wilder ihm vorschlug.

Nach „Boulevard der Dämmerung“ verließ Stroheim Hollywood für immer. Er kehrte nach Frankreich zurück und arbeitete dort bis an sein Lebensende. Er trat in Filmen anderer auf. Er bereitete Projekte vor, die nie ausgeführt wurden, schmiedete Pläne mit alten Freunden. Er lebte in einem Chateau bei Paris. Täglich arbeitete er an seinen Memoiren, schrieb Romane und schuf – auf dem Papier – fabelhafte neue Stroheim-Filme. Seit 25 Jahren hatte er nicht mehr Regie geführt.

Stroheim: In Hollywood ist jeder nur so gut wie sein letzter Film. Wenn man in den letzten drei Monaten an keinem Film gearbeitet hat, ist man vergessen. Wenn man in Frankreich lebt und ein gutes Buch geschrieben hat, ein gutes Bild gemalt oder einen hervorragenden Film gemacht hat, wird man als Künstler anerkannt, selbst wenn es 50 Jahre her ist. Hier wird man nicht vergessen.

Kurz vor seinem Tod wurde Stroheim zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen. In seinen Filmen waren Orden aus der Requisitenkammer gekommen. Jetzt hatte ihm das französische Volk seine höchste Auszeichnung verliehen.
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