Thema: Filmklassiker
Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 27.04.2023, 06:54   #1164  
Peter L. Opmann
Mitglied
 
Benutzerbild von Peter L. Opmann
 
Ort: Hessen
Beiträge: 5.602
Weil ich mich wieder mal für keinen Film entscheiden konnte, habe ich mir gestern abend noch eine Doku angesehen, nämlich „Spur der Zeiten“ (1997) von Ulrich Kasten und Ralf Schenk. Sie erweitert den Film über die Geschichte der DEFA, den ich neulich zusammengefaßt habe, indem sie das Werk von Frank Beyer im einzelnen beleuchtet. Es ist ein 60-Minuten-Film, entstanden im Auftrag des ORB. Der Aufbau ist relativ simpel: Wir sehen Ausschnitte aus Beyer-Filmen, und anschließend äußert sich der Regisseur dazu. Schwierig war, ihn so zu zitieren, daß ich seine Aussagen nicht verfälsche, denn natürlich kann ich nicht ein getreues Wortprotokoll des Films liefern. Ich hoffe, daß es mir dennoch gelungen ist.

Die Doku beginnt mit seinem zu diesem Zeitpunkt neuesten Film, „Nikolaikirche“ (1995). Es werden sowohl fertige Szenen als auch Aufnahmen von den Dreharbeiten gezeigt. Beyers Weg zum Kino sei von Zufällen geprägt gewesen.

„Zwei Mütter“ (1956). Sein erster Film, eine Parabel auf die Unmenschlichkeit des Krieges.

„Fünf Patronenhülsen“ (1960). Beyers künstlerischer Durchbruch. Er zeigt individuelle Figuren, nicht anonyme Menschen in Gruppen.

Beyer: Man hielt sich an das, was gesagt wurde, nämlich konfliktreiche Geschichten aus der Gegenwart zu erzählen. Aber was an Stoffen angeboten wurde, war schematisch, schlecht erzählt zum Teil, und es sollte immer begründet werden, warum alles so gut ist, wie es im Land angeblich war.

„Königskinder“ (1962).

Beyer: „Königskinder“ haben wir gemacht, nachdem „Die Kraniche ziehen“ (UdSSR 1957) erschienen war – das war wie eine Offenbarung. Wir wollten in unseren eigenen Filmen diese optischen Qualitäten unbedingt auch zur Geltung bringen.

„Nackt unter Wölfen“ (1963), ein Film über Leben und Kampf im KZ Buchenwald.

Beyer: Ich habe nur noch zwei Nazi-Filme gemacht, „Jakob der Lügner“ (1974) und „Der Aufenthalt“ (1983). Ich dachte, in diesen Filmen wird etwas erzählt auf eine Weise, wie es bisher noch nicht erzählt worden ist im DDR-Film.

Es folgen Ausschnitte aus diesen beiden Filmen und aus „Rottenknechte“ (1971), einem der ganz wenigen Filme, die das Ende des Zweiten Weltkriegs aus der Sicht deutscher Soldaten zeigt.

„Karbid und Sauerampfer“ (1963)

Beyer: Die Gesellschaft war (in der Zeit, in der dieser Film spielt) noch nicht verfestigt, es war noch alles möglich. Ich hätte auch in eine ganz andere Richtung geraten können. Ich hatte zunächst ein naturwissenschaftliches Studium im Sinn, das war aber von einem Tag auf den anderen über Bord geworfen durch die Erlebnisse, die ich mit Literatur hatte. Und dann spielten sehr viele Zufälle eine Rolle. Als 18jähriger wurde ich Kreissekretär des Kulturbundes in Altenburg. Funktionär werden wollte ich nicht. Und da fragte mich ein Schauspieler, ob ich mit ihm als Dramaturg nach Crimmitschau gehen will. Dort hätte ich bleiben können, aber ich wollte das nicht als Autodidakt weitermachen. Ich wollte Theaterwissenschaft studieren. Und dann kam ein neuer Zufall. Ich bekam die Anfrage, ob ich nicht im Ausland an der Filmhochschule Prag studieren will. Und da bin ich mit fliegenden Fahnen hingegangen.

„Spur der Steine“ (1966)

Beyer: Nach dem Mauerbau, in den Jahren 1962, 63, 64, gab es nach meiner Erinnerung einen Aufschwung in der DDR-Literatur. Das ging von der Sowjetunion aus, vom Parteitag 1956, wo plötzlich eine Liberalisierung in der Kulturpolitik eingetreten war. Die Mauer fand ich auch nicht schön, aber notwendig. Ich dachte, wenn sie nun da ist, können wir in einer anderen Weise miteinander umgehen, auch in einer anderen Weise auf die Konflikte in der Gesellschaft zu sprechen kommen. Das waren ein paar Jahre, in denen ich daran geglaubt habe, daß wir gute Filme und spannende Themen machen können. Mich hat immer die Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft interessiert. Damit ist ein Thema in die Filme hineingekommen, das mit Anpassung oder Nichtanpassung zu tun hat. Ich hatte die Überzeugung: Wenn man Probleme zur Sprache bringt in Filmen, trägt man zu ihrer Lösung bei. Man darf ja nicht vergessen, daß die DEFA-Besucherzahlen stark rückläufig waren, und das hing im wesentlichen damit zusammen, daß die Gegenwartsfilme so uninteressant waren.

„Die sieben Affären der Dona Juanita“ (1973)

Der Film provozierte viele Zuschauergespräche. Aber sie diskutierten nicht über den Film, sondern über sich und ihr Leben.

„Geschlossene Gesellschaft“ (1978)

Beyer: Ich dachte, die Kulturpolitik habe vielleicht doch etwas begriffen, sonst hätte man ja diesen Film nicht angenommen zur Produktion. Diese Illusion verflog allerdings dann, als der Film fertig war und ich merkte, wie er behandelt wurde. (Er wurde einmal im Spätprogramm gezeigt und dann nie wieder.)

„Sie und er“ (1992)

Was beide Filme unterscheidet, ist die politische Dimension. In „Sie und er“ trennt sich das Paar.

Beyer: Ich bin DDR-Bürger geblieben, weil ich dieses Land als meine Heimat angesehen habe. Nur wenn man mir auf Dauer die Arbeit weggenommen hätte, wäre ich mit Sicherheit nicht geblieben.

„Der Verdacht“ (1991), Beyers letzter DEFA-Film

Beyer: Ich hätte mir eine tiefgreifende Reform in diesem Land gewünscht, daß nicht alle über Jahrzehnte gewachsenen Bindungen so rigoros zerschnitten werden und daß eine etwas weichere Landung in der sozialen Marktwirtschaft stattgefunden hätte.

Dreharbeiten zu „Nikolaikirche“ (1995)

Beyer: Ich glaube nicht mehr daran, daß die DDR eine Chance gehabt hätte zu überleben oder das sozialistische System. Aber ich glaube schon, daß die Welt eine Utopie braucht und radikalere Lösungen, als sie von den Politikern gedacht werden.

„Das große Fest“ (1992)

Beyer: Mich interessiert das deutsche Kino schon. Ich finde es äußerst erfreulich, daß es beim Publikum wieder einen Aufschwung gibt. Was ich vermisse, sind halt Geschichten, in denen nicht nur der individuelle Konflikt vorkommt, sondern auch der gesellschaftliche Hintergrund und das Land. Das wird mir zu wenig im Kino und im Fernsehen reflektiert.
Peter L. Opmann ist offline   Mit Zitat antworten