Thema: Filmklassiker
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Alt 06.12.2022, 07:14   #367  
Peter L. Opmann
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Gestern habe ich ein paar Umzugskisten aus dem Weg geräumt. Dabei fiel mir ein Ordner mit Kinokritiken in die Hände, die ich zwischen 1985 und 1992 für eine kleine Lokalzeitung geschrieben habe. Damals schrieb ich zum Beispiel über „Time of the Gypsies“ (1988) von Emir Kusturica: „Die Faszination des ungebundenen, gefährdeten Lebens ist unwiderstehlich.“ Heute betrachtet man den Film sicher viel politisch korrekter und distanziert sich. Aber für mich ist er immer noch ein großes Erlebnis, und ich glaube auch nicht, daß er diskriminierend oder rassistisch ist.

Dies ist ein jugoslawischer Film (wie es da noch hieß), und die Schauspieler sind mir alle unbekannt. Deshalb nenne ich diesmal ausnahmsweise die Rollennamen. Hauptfigur, aus deren Perspektive auch alles gesehen wird, ist Perhan, ein junger Zigeuner (ich verwende diesen Begriff jetzt einmal und dann nicht mehr, okay?), der in ärmlichen Verhältnissen bei seiner Großmutter lebt. Ahmed kommt in die Siedlung. Er gilt als sehr reich und muß gleich ein paar Probleme seiner weitläufigen Verwandtschaft lösen. Vor allem soll Danira, Perhans Schwester, wegen ihres verletzten Beins nach Ljubljana ins Krankenhaus gebracht werden. Ihre Behandlung wird auch Geld kosten. Perhan kommt mir und begleitet Ahmed dann noch nach Mailand, wo er Arbeit sucht. Ahmed und seine Kumpane sind dagegen Zuhälter, handeln mit Frauen und Kindern, schicken auch Bettler auf die Straßen und machen sich über ihn lustig, weil er durch seine Arbeit so wenig Geld verdient. Also läßt sich Perhan auf kleine Einbrüche und Diebstähle ein, wodurch er tatsächlich etwas Geld zusammenbringen kann. Er möchte zuhause ein Mädchen heiraten, ist aber von deren Mutter abgewiesen worden, weil er so arm war.

Ahmed wird von seinen Freunden reingelegt und verliert die Prostituierten und Bettler, die für ihn gearbeitet haben. Obwohl Perhan, der noch bei ihm ist, ziemlich jung ist, wird er nun seine neue rechte Hand, faktisch der Kopf der Bande. Er verdient auf Ahmeds Weise eine Menge Geld. Darauf kehrt er zu seinen Verwandten zurück, um dort nach dem Rechten zu sehen. Er merkt, daß Danira nicht am Bein operiert worden ist, sondern nun ebenfalls wohl in Italien bettelt. Auch andere Dinge, die Ahmed ihm versprochen hatte (unter anderem, ihm ein Haus zu bauen), erweisen sich als leere Versprechungen. Seine ersehnte Braut ist inzwischen schwanger. Sie behauptet freilich, Perhan sei der Vater, was immerhin möglich wäre. Bei der Geburt stirbt sie. Perhan macht sich auf die Suche nach seiner kleinen Schwester. Nach mehreren Jahren findet er sie schließlich in Italien. Sie weiß, was aus dem Kind seiner Braut geworden ist, und bringt ihn hin. Als er den Jungen sieht, ist er überzeugt, daß es wirklich sein Sohn ist. Nun muß er noch mit Ahmed abrechnen, der ihn betrogen hat. Er tötet ihn auf magische Weise und ersticht Ahmeds neue Bandenmitglieder. Am Ende wird er jedoch selbst erschossen.

Die Handlung hatte ich nicht mehr in allen Details im Kopf. Ich stützte mich daher teilweise auf wikipedia. Aber sie ist auch nicht das Zentrale an dem Film (klingt wie eine übliche Mafiageschichte). Vielmehr lernt man die Welt dieser nur teilweise seßhaften Leute kennen und sieht sie mit neuen Augen. Sie sind tiefgläubig katholisch, doch zugleich auch in okkulte Praktiken verstrickt, die hier mitunter ganz real erscheinen. Auch Wahrsagerei spielt eine wichtige Rolle. Man sieht, die Leute sind in gewissem Sinne auf krumme Touren angewiesen, um zu etwas Geld zu kommen.

Was ich noch nicht erwähnt habe, ist die wichtige Rolle, die Perhans Großmutter als Familienoberhaupt und einzig verläßliche Bezugsperson (abgesehen von seiner kleinen Schwester) spielt. Durch Blutrache scheinen alle Mitglieder der Gemeinschaft dem Unglück verfallen zu sein. In ihrem Streben nach ein bißchen Wohlstand richten sie sich gegenseitig zugrunde. Sie leben in dieser schicksalhaft bestimmten Welt, weil sie keinerlei Möglichkeiten haben, sich gegen Lebensrisiken abzusichern. Die romantische Vorstellung des fahrenden Volkes findet dagegen hier keinerlei Bestätigung. Ich glaube, bei dieser Thematik hat wohl jeder Vorurteile, die sich fatalerweise in diesem Film auch teilweise zu bewahrheiten scheinen. Perhan und seine Familie werden jedoch überwiegend positiv gezeichnet, weshalb man sich leicht identifizieren kann. Insgesamt gewinnt man Verständnis, weshalb ich den Film nicht als unkorrekt empfinde. „Time of the Gypsies“ hat vielleicht gewisse Anklänge an „La Strada“, ist aber letztlich mit keinem Film vergleichbar, den ich sonst gesehen habe.

Geändert von Peter L. Opmann (06.12.2022 um 08:53 Uhr)
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