Thema: Filmklassiker
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Alt 20.11.2022, 06:38   #255  
Peter L. Opmann
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Blicken wir mal wieder ins Reich der Zeichentrickfilme. Aber bevor ich mich an so komplizierte Werke wie „Der König und der Vogel“ wage, schreibe ich lieber erstmal über etwas vermeintlich Einfaches wie Hugh Harmans „A Rainy Day with The Bear Family“ (1940). Hat offenbar keinen deutschen Titel, ich habe den Film aber ursprünglich in der „Trickfilmschau“ in Eins plus gesehen. Diesen Siebenminüter möchte ich bewußt in Kontrast setzen zu computeranimierten Zeichentrickfilmen, wie man sie heute im Kinderkanal oder ähnlichen Sendern geboten bekommt. Harman kam von Disney, machte sich dann zusammen mit Rudolph Ising selbständig. Er arbeitete für Warner („Looney Tunes“) und dann für MGM. Seine Trennung von Disney ließ ihm keine Ruhe, und er versuchte mit jedem seiner Filme, ihn zu übertreffen. In dieser Hinsicht ist „A Rainy Day“ bemerkenswert, denn er unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht deutlich von einem Disney-Cartoon mit Donald oder Micky.

Der Story fehlt im Gegensatz zu Disney eine markante Titelfigur, die unverwechselbare Charaktereigenschaften hat. Die Bärenfamilie (Vater, Mutter und ein kleiner Sohn) führt Familiensituationen vor, die sich von den Alltagserfahrungen des Publikums nicht sehr unterscheiden. Die Story ist schlicht: Vater Bär hat es den ganzen Sommer über versäumt, das löchrige Dach des Hauses zu reparieren. Er läßt sich von Mutters liebevollen Ermahnungen nun endlich antreiben, das nachzuholen, aber es ist bereits zu spät: Ein mächtiges Gewitter kommt, das ganze Dach wird beinahe abgedeckt, und der Vater findet sich am Ende in einem völlig unter Wasser stehenden Zimmer wieder. Das Söhnchen hat eigentlich nur die Aufgabe, dem Vater eine Kelle Wasser vom Brunnen zu holen. Die Mutter bleibt den ganzen Film hindurch immer optimistisch, was durch ihren fortwährenden Gesang deutlich wird, und sorgt immerzu für ein gemütliches Heim. Man fragt sich, warum bis auf eine Dachkammer die Räume des Hauses von dem Regeneinbruch völlig verschont bleiben. Aber die kleine Geschichte wirkt sehr liebenswert.

Harmans Stärke liegt in der Animation eindeutig im Detail. Seine Figuren sind näher an der Wirklichkeit als die von Disney. In jeder Körperbewegung des Bärenvaters drückt sich etwas von seinem Wesen aus, etwa wie er sich von seiner Hängematte erhebt, sich unter der Achsel kratzt oder beständig versucht, seinen Strohhut ordentlich aufzusetzen. Sein Zorn über Mißgeschicke ist etwas übertrieben dargestellt, aber auch das charakterisiert ihn gut. Heutige Zeichentrickfiguren mögen sich perfekt im Raum bewegen können, aber im Vergleich zu einem solchen alten Film sind sie leblos. Harman war ein hervorragender Zeichentrick-Künstler; ihm fehlte offenbar nur die Fähigkeit, seinen Stil zu rationalisieren, weshalb er mit seinen Budgets oft nicht auskam und an längeren Filmen immer wieder scheiterte. Ich kenne sonst nicht viel von ihm und müßte mich mal genauer mit ihm zu beschäftigen. Sein Nachfolger bei MGM wurde übrigens Tex Avery, ein regelrechter Anti-Disney, der aber anders als Harman die Fähigkeit hatte, markante Figuren zu entwickeln.

(Auf "Die Erfindung des Verderbens" komme ich noch.)
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