Thema: Filmklassiker
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Alt 18.11.2022, 14:36   #238  
Servalan
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Zitat von Peter L. Opmann Beitrag anzeigen
In unmittelbarer Nachbarschaft ist eine Siedlung von Afroamerikanern. Die Marx-Brothers holen sie aus ihren Hütten, und dann werden sie Zeuge einer Jazz-Nummer und eines wilden Lindy-Hop-Tanzes („All God’s Chillum Got Rhythm“) und tanzen sogar ein bißchen mit. Am Ende müssen sie sich vor der Polizei in Sicherheit bringen. Tags darauf steigt das entscheidende Rennen, auf das Jones gesetzt hat und an dem Harpo teilnimmt. Harpo manipuliert sein Pferd Hi-Hat so, daß es gewinnt. Das Sanatorium ist gerettet.

Die Musikdarbietung hat mich sehr überrascht, denn das sieht schon sehr nach Rock’n’Roll aus – fast 20 Jahre, bevor er tatsächlich in USA auf der Bildfläche erschien. Sicher, die Schwarzen hatten schon vorher ihre Race-Records-Charts, aber nach üblicher Betrachtung bekam das weiße Amerika davon nichts mit. Allen und O’Sullivan singen im Gegensatz dazu Crooner-Duette, wie sie damals in Mode waren. Aber die Marx Brothers stellen für die Zuschauer die Verbindung zu dem rauheren und rhythmusbetonten afroamerikanischen Musikstil her – wahrscheinlich hätte das damals niemand anders als sie tun können. Mich würde interessieren, wie das sicher überwiegend weiße Publikum des Films darauf reagiert hat. Musikfreunde waren vermutlich schockiert.
Möglicherweise schätzt du das falsch ein. Das hängt mit dem Aufbau des Studio-Systems in Hollywood zusammen, die maßgeblich von jüdischen Auswanderern aus Europa aufgebaut wurden.
Dazu gibt es eine großartige Dokumentation, bei deren Titel ich zuerst einmal schlucken mußte, weil ich die in den Kommentaren eines - gelinde gesagt - sehr konservativen youtube-Kanals entdeckt habe: "Hollywoodism: Jews, Movies and the American Dream". Im ersten Moment dachte ich: Ach du Schreck, wieder die große jüdische Hollywood-Verschwörung! Aber damit lag ich voll daneben.
Die synchronisierte Doku lief vor einiger Zeit auf arte.

Die Doku von 1998, Regie: Simcha Jacobovici, ist die filmische Fassung des Buches "An Empire of Their Own: How the Jews Invented Hollywood" des jüdischen Filmwissenschaftlers Neal Gabler, das 1988 erschien. Gabler geht auf die psychologischen Motive der Studiobosse Adolph Zukor, Carl Laemmle, Louis B. Mayer, William Fox sowie Harry und Jack Warner ein. Die flohen, weil ihnen in ihren Shtetls jederzeit Pogrome drohten - der Film zeigt dazu einen Ausschnitt aus "Feivel der Mauswanderer".
Deren Kinoimperien sind eine bewußte Reaktion auf den vorher herrschenden Edison Trust mit dem Sitz an der Ostküste. Der Erfolgsfilm "Birth of a Nation" ist in der Hinsicht nur ein Symptom für das Menschenbild des Edison Trust: Wahre Amerikaner aus deren Sicht waren nur WASPs; Frauen, Juden, Afroamerikaner und einfache Arbeiter wurden nicht ernstgenommen.

Nach Gabler haben die Studiobosse ein Gegenmodell entwickelt, weil sie selbst auch als US-Bürger akzeptiert werden wollten. Dafür haben sie den All-American Guy als Identifikationsfigur erfunden (siehe zum Beispiel die Capra-Filme) und haben afroamerikanische Musik genutzt, häufig mit weißen Schauspielern/Sängern, siehe Al Jolsons Blackface im epochemachenden Tonfilm "The Jazz Singer".
Das Jüdische wurde bewußt heruntergespielt, denn die Studiobosse heirateten in zweiter Ehe meist christliche Frauen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Gründung des Branchenverbands Academy of Motion Picture Arts and Sciences (AMPAS) und die jährliche Auszeichnung der besten Filme mit den Academy Awards, besser bekannt als Oscars.
Musikalisch waren die Künstler extrem anpassungsfähig: Neben dem Pushen der afroamerikanischen Musik wird vor allem Irving Berlin in den Vordergrund gestellt, von dem übrigens auch einer der ewigen Weihnachtsklassiker stammt: "White Christmas".
Diversity und Inklusion stehen in Hollywood also schon länger auf dem Plan.
Das böse Erwachen kam dann in den 50er Jahren mit dem HUAC, wo die Studiobosse in Kreuzfeuer gerieten und deren Selbstbild in der McCarthy-Ära krachend zusammenbrach. Die Bosse haben unter dem latenten Antisemitismus gelitten, der sich da jäh manifestierte.

Die Doku gibt es auf youtube. Lohnt sich!

Geändert von Servalan (18.11.2022 um 14:57 Uhr)
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