Thema: Filmklassiker
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Alt 15.11.2022, 06:17   #213  
Peter L. Opmann
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Nach meiner Erfahrung gibt es Leute, die den frühen Woody Allen mögen, also seine Filme, die mit Gags gespickt waren, und die meisten von ihnen waren lustig, und die sein späteres Schaffen als „schlechter Bergman“ bezeichnen. Dazu gehöre auch ich, auch wenn ich zugeben muß, daß ich schon Mitte der 90er Jahre mehr oder weniger aufgehört habe, seinen Filmausstoß weiterzuverfolgen. Zu meinen Favoriten gehört „Die letzte Nacht des Boris Gruschenko“ (1975), eine Parodie auf monumentale Historienfilme, ganz locker angelehnt an Tolstois „Krieg und Frieden“ (im Original heißt der Film „Love and Death“). Ich finde bemerkenswert, daß Allens Film natürlich überhaupt nicht monumental ist – er dauert sogar nur etwas mehr als 80 Minuten, aber doch so anmutet. Außerdem ist er tatsächlich hauptsächlich eine Abfolge von Gags, mit denen alles veralbert wird, was Allen so unterkam, aber er weist dennoch eine halbwegs folgerichtige Handlung auf, bei der man sogar mit dem Helden mitfiebern kann.

Allen spielt die Titelrolle. Er blickt kurz vor seiner Exekution auf sein Leben zurück und schildert zunächst kurz die russische Familie, in die er hineingeboren wurde. Es ist die Zeit unmittelbar vor Napoleons Rußlandfeldzug; für ihn ist sie geprägt von seiner unerwiderten Liebe zu seiner Cousine (Diane Keaton). Mit ihr ist er zwar sehr vertraut und führt mit ihr tiefsinnige (pseudo-)philosophische Gespräche, aber in Liebesdingen zieht sie seinen hirnlosen, aber bulligen Bruder vor. Der heiratet allerdings in letzter Minute eine andere, worauf sie sich in eine Ehe mit einem reichen, aber spießigen Fischhändler stürzt. Da tritt Rußland in den Krieg mit Frankreich ein, und auch Allen – obwohl lieber Pazifist als Kanonenfutter – muß einrücken.

Der Film gleitet kurz zur Militärklamotte ab, als Allens infantristischer Drill geschildert wird. Er treibt Scherz mit den Schrecken des Krieges. Doch dann entscheidet er durch Zufall eine Schlacht und nimmt etliche französische Generäle gefangen, weshalb er hochdekoriert wird. Bei einem Fronturlaub lernt er in St. Petersburg eine rassige Gräfin kennen, beeindruckt sie durch seine vielen Orden und kann sich doch noch als feuriger Liebhaber beweisen. Ihren Galan besiegt er in einem Pistolenduell – natürlich ohne ihn zu erschießen. Kurz darauf trifft er Keaton wieder, die an ihrer Ehe völlig verzweifelt. Obwohl sie ihn nicht liebt, willigt sie ein, sich mit ihm zusammenzutun, um den Krieg durch ein Attentat auf Napoleon zu beenden. Sie schlüpfen in die Rollen eines adeligen spanischen Geschwisterpaars und verschaffen sich so Zugang zum großen Feldherrn. Keaton stellt sich als Lockvogel zur Verfügung; bei einem Schäferstündchen soll Allen Napoleon dann aus dem Hinterhalt töten, was für ihn als Pazifisten keine leichte Aufgabe ist. Dazu kommt, daß Napoleon, um sich vor Anschlägen zu schützen, mit einem Doppelgänger arbeitet. Schließlich kommt das Téte-a-téte doch zustande, aber Allen versagt und wandert in die Todeszelle.

Glücklicherweise hat Allen einen gerissenen Anwalt: Er hat die Verschiebung der Hinrichtung um eine Stunde herausgehandelt. In der Nacht hat er jedoch eine Vision: Ein Lichtwesen verkündet ihm, daß er in letzter Minute begnadigt wird. Allen kann also den todesmutigen Kriegshelden herauskehren. Völlig cool spaziert er zum Richtplatz, lehnt eine Augenbinde ab und beschwert sich, daß das Exekutivkommando so langsam macht… Am Ende des Films erscheint Allen seiner Cousine im Garten ihres Hauses. Neben ihm steht der Tod. Die Vision war also ein Schwindel. Keaton fragt: „Wie ist das, tot zu sein?“ Allen überlegt: „Du kennst doch das Essen in Treskys Restaurant.“ Keaton: „Ja und?“ Allen: „Es ist schlimmer!“

Diese Inhaltsangabe gibt den Film nur in Umrissen wieder. Man muß wahrscheinlich ein Faible für Woody Allens speziellen Humor haben, um so etwas gut zu finden. Er zielt auf ein intellektuelles Publikum ab, das heißt, Fans von Bully Herbig oder Mario Barth werden ihn vielleicht gar nicht komisch finden. Aber mich spricht auch Allens Stilisierung zum Antihelden und Underdog an. Und dank der Unmenge an lustigen Einfällen kann ich mir „Boris Gruschenko“ tatsächlich immer wieder ansehen – freilich nur in gewissen Abständen.
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