Thema: Filmklassiker
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Alt 07.11.2022, 07:03   #186  
Peter L. Opmann
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Ein Genre, das hier noch weitgehend fehlt, ist das Melodram. Eines der besten Beispiele, die ich kenne, ist Martin Scorseses „Zeit der Unschuld“ (1993). Eine in Konventionen erstarrte Gesellschaft verhindert eine Liebesbeziehung, die eben nicht diesen Konventionen entspricht. Das klingt wie „Effi Briest“, und ich finde, es gibt zwischen den beiden Stoffen Parallelen. Scorsese, der hier einen Roman von Edith Wharton verfilmt hat, macht das aber auf einem weitaus niedrigeren Level von Dramatik als Theodor Fontane. Hier gibt es kein Pistolenduell, und niemand wird aus seiner Familie verstoßen. Die Liebe verwirklicht sich einfach nie, weil die Gesellschaft sie niemals akzeptieren würde.

Der Film spielt in New York in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als das noch eine Kleinstadt war und bewohnt von einer kleinen, sehr an Europa orientierten, bereits ziemlich reichen Oberschicht. Daniel Day-Lewis ist ein erfolgreicher junger Anwalt, der den Auftrag erhält, die Interessen einer Gräfin (Michelle Pfeiffer) zu vertreten. Sie hat ihren gewalttätigen Ehemann in Polen verlassen und ist nach NY zurückgekehrt. Dieser Schritt wird von den feinen Leuten eher mißbilligt, denn zu dieser Zeit wird von einer Frau erwartet, so etwas zu ertragen. Ein Skandal liegt in der Luft. Day-Lewis ist fasziniert von Pfeiffer, die sich nicht viel darum schert, was man von ihr denkt. Er rät ihr jedoch, auf eine Scheidung zu verzichten.

Der Anwalt steht selbst kurz vor der Eheschließung mit einer Frau aus der upper class (Winona Ryder), eine Verbindung, die für ihn finanziell und beruflich sehr vorteilhaft ist und von der Gesellschaft begrüßt wird. Diese Frau ist allerdings, anders als die Gräfin, völlig den Konventionen verhaftet. Wenn er sie heiratet, wird er auch genau so leben müssen, wie es die Gesellschaft von ihm erwartet. Lieber wäre er mit Michelle Pfeiffer zusammen, und sie erwidert seine Gefühle. Aber die Hindernisse sind fast unüberwindlich: Die Verlobung mit Winona Ryder lösen? Sich der Gräfin zuwenden, die ohnehin einen zweifelhaften Ruf hat? Und als er Pfeiffer seine Absichten offenbart, weist sie ihn kühl darauf hin, daß sie sich – auf seinen Rat hin – von ihrem Ehemann nicht hat scheiden lassen. Soll das also etwa eine außereheliche Beziehung werden?

Day-Lewis tut also nichts von alledem, sondern heiratet Ryder und gründet mit ihr eine den Konventionen entsprechende Familie. Damit ist er ein glücklicher Ehemann und ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, doch alles ist nur Fassade. Heimlich trifft er sich gelegentlich mit Pfeiffer, aber beide wissen, daß eine richtige Liebe nicht drin ist. Da gibt es eine sehr eindringliche Szene: Er will sich endgültig mit ihr aussprechen und findet sie am Meeresufer. Sie ist ein Stück entfernt und hat ihm den Rücken zugewandt. Er beschließt: Wenn sie sich umdreht, bevor ein bestimmtes Schiff an ihr vorbeigefahren ist, wird er sie ansprechen. Aber das Schiff fährt vorbei, und sie dreht sich nicht um. Später erfährt er: Sie wußte, daß er hinter ihr steht. Schließlich geht sie wieder nach Europa, und nun ist keine Aussprache mehr möglich; er kann ihr auch nicht einfach so folgen. Übrigens: Auch Winona Ryder weiß, daß er eigentlich Pfeiffer liebt, wie sich herausstellt, aber sie ist sich sehr sicher, daß er sie nicht verlassen wird.

Viele Jahre danach hält sich Day-Lewis beruflich in Paris auf, wo Pfeiffer jetzt lebt. Sein schon erwachsener Sohn begleitet ihn und schlägt ihm vor, sie zu besuchen, nachdem er von der verhinderten Liebesgeschichte erfahren hat. Ryder ist schon tot – es würde also nicht unbedingt etwas gegen die Begegnung sprechen. Aber Day-Lewis schreckt davor zurück. Er setzt sich unter Pfeiffers Wohnung auf eine Bank – er hat den Eindruck, daß sie zuhause ist - und bleibt da einfach sitzen. Ihm sind nur die Erinnerungen an sie geblieben. Und nun sind ihm die Erinnerungen wertvoller als ein richtiger Mensch.

Wie das bei einem Melodram sein sollte, geht einem der Film mächtig ans Herz. Obwohl die Zeiten ganz andere sind, hat wohl jeder die Erfahrung von verpaßten Gelegenheiten, die sich nie mehr nachholen lassen, schon selbst gemacht. Mich beeindruckt vor allem die Rolle von Michelle Pfeiffer. Obwohl sie wirklich unkonventionell ist, kann sie nichts tun, um sich mit Day-Lewis zu verbinden, weil das nur auf den Status einer Geliebten hinauslaufen würde. Das erkennt sie rasch und bleibt lieber allein. Er dagegen ist in Illusionen gefangen.

Alle Gefühle bleiben in diesem Film unterschwellig – oder sie sind nicht echt. Niemand sagt, was er denkt, aber Klatsch und Gerüchte schwirren umher, und die steifen Umgangsformen entsprechen denen europäischer Fürstenhäuser, wo sie abgeschaut sein dürften. Die Gesellschaft sorgt dafür, daß sich jeder so verhält, wie er soll – oder er wird ausgestoßen und verliert Ansehen, Wohlstand und alles, was sein Leben angenehm macht. Scorsese treibt enormen Aufwand zu zeigen, was da auf dem Spiel steht. New York ist zwar ein Kaff mit schlammigen Straßen, auf denen Kutschen unterwegs sind, aber die feine Gesellschaft umgibt sich mit erlesenem Luxus. Wertlos freilich im Vergleich zu einer echten Liebe. All das zieht den Betrachter in den Film hinein. Obwohl nie äußere Spannung entsteht, langweilt man sich keine Sekunde.
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