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Alt 11.01.2021, 20:31   #3621  
God_W.
Captain Rezi
 
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Walhalla – Die gesammelte Saga 1



Da haben wir es wieder, eine Kindheitserinnerung wie sie schöner kaum sein kann. Den Walhalla-Zeichentrickfilm habe ich als kleines Kind geliebt, gleich mehrfach gesehen – und dann irgendwann vergessen. Also nicht wirklich vergessen, aber es ist einer von zwei Zeichentrickfilmen von denen einige besonders markante Szenen ganz tief in meinem Gedächtnis verankert blieben, aber der Name und der gesamte Plot irgendwie in den Hintergrund rückten.

Viele Jahre später, nachdem ich meine Frau kennengelernt hatte kamen wir irgendwann an einen Punkt, an dem wir uns gegenseitig diese Perlen unserer Kindheit, die ja jeder irgendwie hat, zeigen wollten. Walhalla kam mir da an einem verschneiten Nachmittag auf einem Mittelaltermarkt in einer alten Burg wieder in den Sinn, die Location hat bestimmt ein wenig dabei geholfen die grauen Zellen wieder zu wecken, in denen die Bruchstücke zu dem Film schlummerten. Heutzutage, mit dem Internet, stellt sich die Recherche ja recht einfach dar und so war der Film dann auch schnell gefunden. Allzu viele Zeichentrickfilme mit einem Einschlag von nordischer Mythologie gibt es schließlich nicht.

Was soll ich sagen, das Ganze ist auch schon wieder ein paar Jahre her und den Film haben wir mittlerweile mehrfach wieder gesehen. Ab und an nach einem Mittelaltermarkt und zuletzt gemeinsam mit unserem Krümelchen, die den Streifen zum Glück genauso super findet wie ich damals. Dass es dazu Comics gibt, bzw. der Film auf diesen basiert, die es ja schon viel früher gab, davon hatte ich absolut keine Ahnung, bis @OK Boomer im April vergangenen Jahres diesen Thread im Comicforum gestartet hat. Ehrlich gesagt war ich allerdings erstmal sehr skeptisch was die Reihe und vor allem ihre Veröffentlichung anbelangt. Ich meine mal ganz ehrlich, ein alter, dänischer Funny-Comic mit – sorry – Zeichnungen die nicht gerade eine Augenweide sind? Dann auch noch bei einem für mich unbekannten Kleinverlag, Serienabbruch ich hör Dir trappsen?

Aber weit gefehlt, die „Edition Roter Drache“ scheint ein feiner kleiner Verlag zu, der eine prima Philosophie an den Tag legt (hier nachzulesen: Verlagsphilosophie | Edition Roter Drache), und vor allem mit ganz viel Herzblut bei der Sache ist. Das spürt man sofort, wenn man den wunderschön gestalteten Band mit der Goldgeprägten Titelschrift in Händen hält. Dazu gibt es massenweise Bonusmaterial über die Reihe an sich und ihre Macher, reichlich Skizzen und Zeichnungen, Infos über die Ursprünge, also die den einzelnen Alben zugrunde liegenden Götter- und Heldensagen. Auf diese wird nicht nur verwiesen, nein die relevanten Auszüge aus den Götter-Liedern und der Snorra-Edda sind sogar im Anschluss an jede Geschichte zum selbst nachlesen abgedruckt, einfach großartig! Dazu wurden die Zeichnungen digital aufgefrischt und alle Comics neu übersetzt.

Ja, da macht sich jemand richtig Mühe und ich bin froh, dass ich Band zwei auch schon hier liegen habe. Band drei ist mittlerweile auch angekündigt und nach Aussage des Verlags sind dort alle sehr froh, dass die Reihe so gut angenommen wird, verkauft sich glücklicherweise also scheinbar nicht schlecht. Überhaupt scheinen da alle sehr freundlich zu sein, wie man auch an den ausführlichen Antworten auf E-Mails erkennt. So werden wir bei gleichbleibendem, halbjährigen Veröffentlichungsrhythmus schon im kommenden Jahr die komplette Saga mit allen 15 Alben und reichlich Zusatzmaterial in fünf schmucken Sammelausgaben vorliegen haben, eine Abbruchgefahr besteht keinesfalls, die Jungs und Mädels der „Edition Roter Drache“ ziehen das durch.

Aber lohnen die Geschichten den ganzen Aufwand überhaupt, den der Verlag da betreibt? Unbedingt! Zugegeben, die Zeichnungen können auf den ersten Blick abschreckend wirken. Das wirkt erstmal ziemlich grob und ungelenk und wo Landschaften und Gebäude doch schon nach recht kurzer Lesezeit einen gewissen Charme entwickeln tut man sich bei den Charakteren noch schwer. Am ehesten ist da noch Loki gelungen, aber ausgerechnet Thors Gesicht und Mimik koppt wie ein grob zusammengewürfelter Hackklotz daher, geradeso als hätte er im Rausche des Met so manches mal versäumt seinen Hammer aufzufangen und diesen auf direktem Wege in die Visage bekommen. Aber zum einen bessert sich das von Album zu Album sichtlich und andererseits gelingt es den Erzählern spielend mich nach und nach in diese Welt zu saugen. Wie hier die ursprüngliche Mythologie voller Verehrung in eine Mischung aus glaubhafter Nacherzählung und wundervoll humorvoller, augenzwinkernder Persiflage verwandelt wird, ohne jemals respektlos zu wirken ist einfach wundervoll. Wenn man es selbst nicht besser kann darf man auch gerne mal Zitieren, deshalb erwähne ich gerne was @Huckybear und @Gimli dazu geschrieben haben, denn das passt wie die Faust aufs Auge:

Huckybear: „…Erst ist man von den ersten Alben zeichnerisch etwas verschreckt, aber wenn man es dann erst einmal liest , dann beginnt der Zauber langsam wunderbar zu wirken und es entwickelt sich so ein etwas seltsam wohlig , wunderbares uriges Gefühl.
Wahrscheinlich ist das das Dänische "Hyggelig" …“


Gimli: … Hinzu kommt, dass der Humor wunderbar funktioniert und dabei durchaus an Goscinnys Großtaten erinnert. Augenwzinkernde, liebevolle Veräppelung der nordischen Sagen und Mythen (und dabei vor allem der Asen und Wanen), die man als Leser auch versteht, ohne sich groß in der Edda oder anderen nordischen Sagas auszukennen, weil das Bonusmaterial sehr unterhaltsam und lehrreich ist…

Dem ist wenig hinzuzufügen. In Der Wolf ist los werden wir gemeinsam mit den Bauerskindern Tjalfi und Röskva auf gar wundervolle Weise in die Welt der Götter entführt und begeben und auf ein großes Abenteuer bei der Suche nach dem entflohenen Fenriswolf, bevor wir bei Thors Brautfahrt selbigen auf einer aberwitzigen Reise ins Land der Riesen zu seiner vermeintlichen Trauung mit einem ebensolchen begleiten. Letztlich wird der Stolz des Göttervaters Odin derart auf die Probe gestellt, dass er für den Sieg bei einer Wette mit den Walkyren bereit ist das Wohlergehen seines gesamten Reiches aufs Spiel zu setzen. Odins Wette wartet mit vielen unerwarteten Wendungen auf, ach, eigentlich ist der gesamte Band äußerst abwechslungsreich, lehrreich und eben auch richtig witzig!

Der alte Zeichentrickfilm (Dänemark 1986) greift schon einige Teile dieser drei Stories auf, ist im Grunde aber wohl eine Mischung aus dem ersten Album, in dem die Kids zu Beginn quasi als Erzähler rekrutiert werden, mit denen wir gemeinsam auf die Reise zu den Asen gehen, dem vierten Album, wo der kleine Satansbraten Quark zu der Truppe stößt und sich das Trio aus den beiden Kindern und Quark aufmacht, sich ohne die Götter ein Heim einzurichten gehen, und schließlich den gefährlichen Wettkämpfen „Im Reich der Riesen“, dem fünften Album. Mit den ersten beiden Sammelbänden der Gesamtausgabe habe ich diese Inhalte also schon beisammen, was meine Vorfreude auf Band zwei nochmal steigert.

Die recht aktuelle, ebenfalls dänische Realverfilmung von 2020 wählt einen deutlich düstereren und ernsteren Ansatz, währen im Grunde die Geschichte aus dem ersten Album komplett übertragen wird. Die Kinder Tjalfi und Röskva werden eingeführt und im Anschluss entfaltet sich die – im Vergleich zum Comic ungleich gruseligere – Jagd auf den Fenriswolf. Mit Hollywoodproduktionen kann das Budgettechnisch natürlich nicht mithalten, was man auch an den Effekten merkt und auch die Schauspieler wirken leider an manchen Stellen etwas Laienhaft, was aber auch an der teils wenig gelungenen deutschen Synchro liegen kann. An anderen Stellen wird jedoch dieser sagenhafte Zauber verströmt, der sich mit dieser ganz besonderen, nordischen Sichtweise und Atmosphäre verbindet. Da funktioniert es plötzlich und ich würde mir wünschen, dass da noch weitere Teile kommen. Allerdings weiß ich nicht inwiefern der Film in Dänemark und international erfolgreich war.

Die wundervolle Veröffentlichung der „Edition Roter Drache“ ist mit glatten 40€ für drei Alben sicher kein Superschnäppchen, aber die Wertigkeit des Buches und die große Menge an spürbarer Arbeit und Liebe zum Detail, die darin eingeflossen sind rechtfertigen den aufgerufenen Preis auf alle Fälle. Mich hat das Buch derart angefixt, dass ich direkt mal die „Hausbibliothek“ nach Sekundärmaterial durchforstet habe. Da bin ich schließlich auch fündig geworden und habe diese beiden Bücher ausgegraben:

Die sind durchaus empfehlenswert. Manesse ist ja sowieso immer eine Bank was Veröffentlichungsqualität angeht und es war schon schön die Lieder und Abschnitte der Edda, die im Comicband nur in den jeweils relevanten Auszügen abgedruckt wurden nochmal komplett zu lesen und die beiden Übersetzungen miteinander zu vergleichen. Das hat so viel Spaß gemacht, dass ich auch drumherum noch so einige Abschnitte gelesen habe und momentan immer mal wieder darin schmökere. Die Reclam Ausgabe, die zusammen mit den Griechischen Götter- und Heldensagen in einem Schuber daherkommt, enthält Nacherzählungen all der alten Mären um Odin, Thor, die Riesen usw., die von Reiner Tetzner in eine leicht verständliche Form gebracht wurden. Die sind echt prima zu lesen und eignen sich sogar zum Vorlesen. Krümelchen habe ich daraus (also aus dem zweiten Band) zum Beispiel vor einigen Jahren vor unserem Griechenland-Urlaub die Abenteuer von Herkules und dergleichen vorgetragen. Die im Comicbuch noch häufig erwähnte Prosa-Edda nach Snorri Strurluson habe ich jetzt leider nicht verfügbar, aber ich bin momentan so heiß auf das Thema, dass ich mir davon auf alle Fälle noch eine Ausgabe besorgen werde, bevor ich mich an Band zwei ran wage.

Ihr mögt lustige Comics mit historischem und/oder sagenhaftem Einschlag, wollt aber gerne mal was Anderes wie Asterix oder Lucky Luke ausprobieren? Greift zu! Es gibt wahrlich keinen Grund von dieser prachtvollen Reihe die Finger zu lassen!

9/10

VG, God_W.
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