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Alt 10.10.2014, 15:51   #7  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard Tote Sprachen, lebendige Geschichten

Der Gedanke an etwas Effektives, ist in der Geschichte der Menschheit eine ziemlich junge Erfindung. Vieles davon hängt mit der Erfindung der Uhren und einem mechani(sti)schen Menschenbild zusammen, in der Marionetten und Maschinen zum Vorbild werden. Außerdem wird durch diese Vergötzung des Nützlichen (Utilitarismus) ein Klippschulmodell der ehrwürdigen Mathematik vermittelt.

Ja, gewisse Dinge lassen sich berechnen.
Bestimme Schlußfolgerungen lassen sich ziehen.
Aber ziemlich häufig hat eine Ursache mehrere Folgen, und einzelne Folgen lassen sich selten auf eine einzige Ursache reduzieren.

Ja, die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, A und B, ist eine gerade Strecke.
Allerdings nur auf einer Fläche.
Je mehr Dimensionen dazukommen, desto komplexer wird die Berechnung. Deswegen liegt in der Trigonometrie die Lösung manchmal in einer geschwungenen Linie, die wie ein immenser Umweg aussehen kann.

Manchmal erweist sich gerade das als besonders effektiv, was beiläufig daherkommt und wie groteske Unterhaltung wirkt: die antiken Mythen haben schließlich Jahrtausende überlebt. Die alten Sprachen sind untergangen, und was die Kulturen hinterlassen haben oder was von ihnen übrig geblieben ist, das müssen Altphilologen und Althistoriker mühsam aus ihren Funden rekonstruieren.
Selbst wer überhaupt keine Ahnung hat, kennt zumindest als Jugendlicher die Namen der mythischen Helden und Gesänge: Ödipus und Ariadne, Herakles/Herkules und Siegfried, Isis und Horus. Welche Taten die vollbringen oder erleiden mußten, ist in groben Zügen bekannt und kann vorausgesetzt werden, wenn Autoren ihre eigene, (post)moderne Version der Sagen entwickeln.

Wirtschaftswissenschaftler beklagen sich häufig, das Menschen nur schwer durchschauen, wie sich Zahlen entwickeln, und kaum jemand ein Gespür für die logarithmische Struktur dieser Muster hat. Entsprechend geringschätzig äußern sich die Ökonomen dann über Stories und das Storytelling. Ich halte ihre Einschätzung für einen Fehler, denn gerade Stories beschäftigen sich mit der Entwicklung, und Mythen haben wie (kirchliche) Liturgien eine ziemlich feste Struktur. Klar, die läßt sich ändern - aber damit ändern sich dann auch die Bedeutungen.
Joseph Campbells berühmte Queste des Helden mit ihren klaren Etappen dürfte mittlerweile Allgemeingut sein.

Eine glaubwürdige Entwicklung erfordert jedoch eine gewisse Zeit, an einem Abend läßt die sich nicht abwickeln.
Deshalb halte ich es für keinen Zufall, daß die klassischen Epen einen festen Rahmen besitzen. Homers Ilias und Odyssee weisen jeweils 24 Gesänge auf, und ich glaube nicht, daß es jemals einen Menschen gelungen ist, diese Epen in einem Rutsch durchzulesen. Wer diese Epen erzählt, braucht Unterbrechungen, damit sich der Erzähler und die Zuhörenden erholen und das Gehörte verarbeiten können. In den Beitexten zu meiner Ausgabe (dtv Artemis Bibliothek der Antike) wird darauf hingewiesen, daß sich Homer (wer auch immer das konkret gewesen ist) von Rhapsoden inspirieren ließ, wandernden Geschichtenerzählern, und etliches wird er einfach abgekupfert oder für seine Zwecke veredelt haben. Etwas verwegen interpretiert, gleichen die Epen von der Struktur einer Maxi-Serie in 24 Heften, und die Odyssee wäre dann die erste Spin-Off-Serie.
Die Römer haben das Konzept leicht abgewandelt: Vergils Aeneis hat zwölf Bücher und Ovids Metamorphosen 15 Bücher. Dieses Prinzip, sich längere Geschichten zu erzählen, ist äußerst hartnäckig und dennoch extrem flexibel. Im Mittelalter werden aus den Gesängen oder Bücher Tage, an denen sich Figuren gegenseitig Geschichten erzählen: Beispielsweise in Boccaccios Decamerone (10 Figuren x 10 Tage = 100 Geschichten) oder das Heptameron von Margarete, Königin von Navarra (das sollte eigentlich ein französisches Decamerone werden, aber Gevatter Tod hinderte sie an der Fertigstellung).

Menschen haben sich ständig Geschichten erzählt, lange Geschichten.
Zwar haben sich die Mittel verändert, und die Autoren haben ihr Handwerk verfeinert, so daß sie jetzt subtiler vorgehen können. Holzhammer und gereckte Zeigefinger sind zum Glück adé.
Auf diese Weise haben sich die ehrwürdigen Mythen in Archive verwandelt, in Schatzkammern, von denen sich Kreative inspirieren lassen können. Manche Geschichten sind einfach nicht totzukriegen, in immer neuen Verwandlungen leben sie fort und bereichern unser Leben.

Ich mag Geschichten.

Geändert von Servalan (01.04.2015 um 13:13 Uhr)
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