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Alt 05.10.2014, 16:39   #2  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard Allgemeines zum Thema

Läßt sich Qualität von künstlerischen Werken erkennen? Meiner Meinung nach: Ja.

Ich möchte niemanden durch Spoiler vergrätzen oder von der Lektüre abhalten, weil das Kennenlernen eines Werkes ein sinnliches Vergnügen ist. Pointen sind zwar schön und gut, wenn sich damit das Handwerk des Autoren erschöpft hat, ist das Werk meist ebenso rasch vergessen, wie es genossen wurde.

Eltern können vermutlich ein Klagelied von Kindern singen, die immer wieder dieselbe Geschichte vorgelesen bekommen wollen. Später hat der Nachwuchs dann meist Phasen, in denen er sich in bestimmten Werken verliert - quasi die Initiation zum Fan. Daran finde ich nichts Schädliches, solange der Prozeß irgendwann abgeschlossen wird.
Es ist nämlich etwas anderes, eine Geschichte nur zu kennen, oder sich in- und auswendig in ihr bewegen zu können. Dann lassen sich nämlich Dinge entdecken, die zuerst übersehen worden sind.
Am besten läßt sich das, glaube ich, mit dem vergleichen, was Kinder in der Grundschule erleben. Schreiben lernen, das Kleine und das Große Einmaleins zu büffeln, ist wirklich schwierig und kein Zuckerschlecken. Aber wer das geschafft und diese Grundkenntnisse verinnerlicht hat, dem gehen sie dann locker von der Hand. Die ersten Lektionen von Fremdsprachen haben dieselben Tücken.
Aber hier geht es nur um Unterhaltung, oder ...?

Auf künstlerische Werke trifft das in ähnlicher Weise zu. Werke müssen erschlossen werden, was manchmal ziemlich überwältigend sein kann. Ein gutes Werk sollte sich weder anbiedern, noch sollte es so kryptisch sein, daß es das Publikum verschreckt. Wer bei der ersten Lektüre nicht alles auf Anhieb versteht, ist noch längst kein Dummkopf.
Wer ein Werk verstehen will, muß zunächst einmal herausfinden, welche Maßstäbe das Werk sich selbst setzt. Solch eine Unbefangenheit findet sich aber selten, häufig werden Werke in Rezension für etwas abgekanzelt, das sie gar nicht vermitteln wollten. Zahlreiche klassische Werke wurden zunächst pauschal verrissen, bevor die Qualitäten im nachhinein erkannt wurden.
Dabei sollten Werke alle Möglichkeiten nutzen, die ihnen zur Verfügung stehen, wenn sie geschaffen werden. Falls ein Werk zunächst verstörend wirkt oder das Publikum überfordert, halte ich das keineswegs für einen Fehler. Ein Werk kann auch eine Herausforderung sein, an der das Publikum wächst.

Bevor ich mich in theoretischen Überlegungen verliere, verweise ich lieber auf Zitate aus drei Fernsehserien. Manchmal versteckt sich in kleinen Szenen so etwas wie eine Gebrauchsanweisung für das Publikum (und eine Kritik der Autoren respektive Showrunner an den Verantwortlichen in den Medien).

Dennis Potter: The Singing Detective (damit meine ich die britische Serie der BBC 1986, nicht das unselige Remake von Mel Gibson).
Der Pulp-Krimi-Autor P.E. Marlow liegt mit einer Nervenerkrankung auf der Männerstation eines englischen Krankenhauses. Sein Arzt geht davon aus, daß Marlows entstellter Körper, der manchmal ins Delirium gerät, nur das Symptom einer psychischen Ursache ist. Marlow ist von seiner gesamten Umgebung genervt und lenkt sich ab, indem er sich vorstellt, wie er seine U-Literatur in hochwertige Belletristik verwandelt.
Die Serie wurde sogar in den USA ein Erfolg, was sich niemand erklären könnte, weil da bloß ein Stinkstiefel wirres Zeug von sich gab. Mich verwundert der Erfolg nicht. Seit einigen Jahren dampfplaudern Leute aus dem Feuilleton über das neue Niveau von Fernsehserien, die vormals als Schmutz und Schund abgetan wurden, als billige Unterhaltung für die Massen. Kurz, da werden Vorurteile abgesondert, die nicht nur mir bekannt vorkommen dürften.
Potter hat sich schon vor fast dreißig Jahren über diese Gatekeeper des guten Geschmacks lustig gemacht.
Denn wie ich The Singing Detective verstehe, macht Potter dasselbe wie sein Alter Ego/Stand-in Marlow: Er veredelt das verachtete Genre der Fernsehserie durch subtile Nuancen, und in seinen ironischen Volten macht er seine Kritiker damit lächerlich. Marlows Pulp-Krimi entspricht dann dem, was sich die Kritik von einer handelsüblichen, leicht verdaulichen Serie versprochen haben.

Twin Peaks variiert dieses Motiv in Dick Tremaynes Weinprobe in Staffel 2.2. Der geckenhafte Herrenausstatter ist ironischerweise eine lächerliche Figur, damit das Gemeinte nicht zu offensichtlich wird. Es beginnt schon damit, daß der verkostete Rotwein zuerst nur geschwenkt und gerochen werden soll, nicht getrunken. Tremayne ermahnt Deputy Andy Brennan scharf. Danach soll ein Schluck gegurgelt und dann ausgespuckt werden, und schulmeisternd fragt Tremayne die Anwesenden, was sie geschmeckt haben. Femme Fatale Lana Budding Milford sagt dann: "Schokolade", und Andy ergänzt: "Banane." (Möglicherweise umgekehrt) Ziemlich enttäuscht, schlägt Lucy Moran vor, dann könne man doch gleich einen Banana Split trinken.
Zielgruppen-Serien entsprechen danach einem Banana Split, gute Serien einem gehaltvollen Rotwein.

Letztes Beispiel: The Wire: D'Angelo Barksdale kommt in die Pit und sieht, wie Bodie und Poot dort scheinbar Schach spielen. Erst als Poot mit seiner Figur einen scheinbar falschen Zug macht, wird er aufgeklärt, daß die beiden Dame spielen. D'Angelo kringelt sich schlapp. Die beiden Spieler nutzen seiner Meinung nach, die Möglichkeiten des Spielbretts nicht aus und begnügen sich mit einer minderwertigen Variante. Weil Poot mehr wissen will, erklärt er ihnen Schach.
Gewöhnliche Serien entsprechen einem Dame-Spiel auf einem Schachbrett, Serien wie The Wire einem Schachspiel. Einerseits wird dort mitdenken eingefordert, andererseits kann es anstrengend sein.

Genug für heute.

Geändert von Servalan (01.04.2015 um 12:51 Uhr)
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