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Alt 28.03.2011, 14:13   #1477  
michidiers
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From Hell



Alan Moore und Eddie Campbell

Alan Moore beschreibt auf den gut 500 Seiten dicken Wälzer die Vorkommnisse in London des Jahres 1888. Ein unbekannter Mörder tötet und zerstückelt auf bestialische Art und Weise im Armenviertel Whitechapel nach und nach insgesamt fünf Prostituierte. Bei der Suche nach dem Täter führen die Spuren den ermittelnden Beamten Abberline dabei in die höchsten Kreise der Londoner Gesellschaft und sogar bis in den Buckingham Palast.

Puh, sage und schreibe drei Wochen habe ich mir für dieses Mammutwerk Zeit genommen, bzw. Zeit nehmen müssen. Alan Moore hat sich mit wohl sämtlichen verfügbaren Quellen, die sich mit den Morden des „Jack the Ripper“ beschäftigten, vertraut gemacht und akribisch ausgewertet. Alle Daten, Fakten und Örtlichkeiten, die noch belastbar sind, hat er als Grundgerüst für diese Graphic Novel benutzt. Alle nicht belegbaren Geschehnisse, die nur auf Vermutungen, Behauptungen und Annahmen basieren, die wurden mit seinen eigenen Rückschlüssen und Fiktionen in die dunklen Räume zwischen den Fakten eingebaut. Heraus kommt dabei eine Täterschaft und ein Komplott aus Oberschicht, Freimaurer und Königshaus, das schlussendlich zu den Morden führte. Als Nachweis hat Alan Moore zu fast jeder Seite eines Kapitels viele Anmerkungen, Hintergründe und Quellen verfasst. Daher ist ein nicht unerheblicher Teil des Werkes auch als normaler Buchtext zu lesen

Aber diese Geschichte erzählt dem Leser nicht nur von fünf grausamen Morden. Er stellt auch die unüberwindbaren gesellschaftlichen Klüfte in der wohl zu dieser Zeit noch bedeutendsten Stadt der bekannten Welt dar: London. Das sich langsam industrialisierende Großbritannien steht auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert und der Neuzeit. Alte gesellschaftliche Strukturen, die über Jahrhunderte bestand hatten, zerfallen. Am stärksten macht sich dies in den Großstädten bemerkbar. London ist ein Völkergemisch mit immer unüberbrückbareren gesellschaftlichen Klüften. Der Adel, der Geldadel und die obere Mittelschicht sind nur die kleine, aber bestimmende Spitze einer Bevölkerungspyramide. Darunter liegt eine wie ein im Wasser schwimmender Eisberg riesige unbekannte Unterschicht voller Tagelöhner, Arme, Bettler, Krüppel und Prostituierte, die erst den Reichtum der kleinen Oberschicht möglich macht.

Aber nicht nur der Reichtum basiert hier auf die Arbeitskraft der Armen. Auch für die Befriedigung der sexuellen Triebe hat die Unterschicht herzuhalten. Die Oberschicht, sie stellt sich nach Außen voller Anstand und Moral dar. Sie ist eine Schicht, die anscheinend alle tierische Triebhaftigkeit vor lauter Moral längst abgelegt hat. Hier aber, in den vielen Armenvierteln findet sie dies alles wieder. Hier kann sie ihre menschlichen Urinstinkte heimlich ausleben und verfällt diesen wie heutzutage ein Junkie dem Heroin. Ein perverser Sex für drei Pence, das ist der Straßenpreis. Der Kunde findet seine schnelle, harte und billige Befriedigung, die Prostituierte kann sich damit einen Schlafplatz (sitzend) auf der harten Holzbank für eine Nacht kaufen, nur um am nächsten Morgen wieder auf der Straße zu stehen. Ein verzweifeltes Leben für die schwächsten der Gesellschaft zum finanziellen und sexuellen Wohlergehen der Reichen und Starken. Eine verzweifelte Gesellschaft von Elenden und von Krankheit gezeichneten, ausgenutzten Menschen, die ihre letzte Zuflucht nur noch in Pubs findet.

Die Zeichnungen sind der Zeit der Geschichte und der düsteren Grundstimmung ideal angepasst. Eddie Campbell zeichnet dabei einen harten zeitgenössischen Strich, fast wie mit dem Mordmesser ins Papier geschnittene Panels lassen Bild und Wort, objektive Darstellungen und subjektive Intuitionen, miteinander verbinden.

Ja, alles in allem: man sollte sich viel Zeit für dieses Werk nehmen. So an einem Wochenende kann man es nicht mal schnell durchlesen und in seiner Gesamtheit erfassen (wenn man es überhaupt kann). Es sind einfach in der Masse zu viele Daten, Fakten, Örtlichkeiten, Fiktionen, die hier ihren Weg ins Buch gefunden haben. Jedes einzelne der unzähligen Panels ist ein kleines Kunstwerk für sich. Einen guten Magen sollte man übrigens beim Lesen auch haben. Auch wenn die Morde durch die subjektiven Zeichenkunst Campbells in einer gewissen Unschärfe dargestellt werden, so ist das Auseinanderschneiden und die Ausweidung des letzten Opfers Mary Kelly explizit dargestellt und lies mir doch ganz schön den Magen umdrehen.

Zufall: Gekauft habe ich den Comic übrigens in einem hamburger Comicladen vor etwa 2 Jahren, beim letzten Treffen von Perry in Delmenhorst stellte sich heraus, dass ich das Buch von ELDORADO höchstpersönlich kaufte.

Geändert von michidiers (28.03.2011 um 14:19 Uhr)
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